Kapitolinische Kapitulation

„Alle Wege führen nach Rom“ – niemand kommt an der Roma aeterna vorbei, und das gilt bereits seit nunmehr rund drei Jahrtausenden. Mit dem Zweizeiler „Sieben-fünf-drei: / Rom kroch aus dem Ei“ erinnert die deutsche lateinpädagogische Spruchweisheit an die beiden Gründungsbrüder Romulus und Remus, die von einer Wölfin aufgezogen wurden. Die entsprechende Freiluftplastik ist auf dem Kapitolshügel zu sehen. Niedersächsische Wolfsberater mögen dies für ihre Arbeit zu vereinnahmen wissen, sofern sie diese Legende noch kennen. Aber seit dem Jahr 753 vor Christi Geburt ist eben in der „Ewigen Stadt“ allerhand Sonstiges passiert. Zum Beispiel wurden im kapitolinischen Senatspalast Anno Domini 1957 (also nach Christi Geburt!) die „Römischen Verträge“ unterzeichnet. Keine sechzig Jahre ist das jetzt her. Rom ist Europa, und deshalb ist es so bedenklich, was sich jüngst dort zutrug.

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Auch den Präsidenten der Islamischen Republik Iran nämlich führte ein Weg nach Rom. Italien sei für die ölreiche und wieder in die internationale Staatengemeinschaft aufgenommene Regionalmacht am Persischen Golf einer der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner der westlichen Welt, hieß es. So machte also der weltliche Repräsentant eines von einem „geistlichen Oberhaupt“ kontrollierten Landes jener mondänen Kapitale seine Aufwartung, wo ebenfalls ein heutzutage säkular-republikanisches System Tür an Tür mit einem religiös-monarchischen Regiment wohnt. Aber – im Gegensatz zum Mullahregime in Teheran – seit 1929 in zwei völlig voneinander unabhängigen Staaten! Weltweit einmalig. Wie unterschiedlich die Repubblica Italiana und die Città del Vaticano agieren, zeigte sich im Umgang mit dem schiitischen Gast.

In Italien mussten es unbedingt die Kapitolinischen Museen sein, den iranischen hohen Herrn zu empfangen. Welch eine Gelegenheit, die dortigen Götterstandbilder aus der griechisch-römischen Antike, gesammelt seit den Zeiten der Renaissancepäpste, zu präsentieren! Jene weiblichen wie männlichen Idealmenschen, die, in Stein gehauen oder in Gips modelliert, vom abendländischen Humanismus so begeistert wiederentdeckt wurden und seitdem der gesamten zivilisierten Menschheit als Maßstab für Schönheit, edle Einfalt und stille Größe gereichen. Aber nun hatte man im Vorfeld des Besuchs gehört, dass Freizügigkeit überhaupt im Orient tabu sei. Die Regierung von Bella Italia sorgte deshalb dafür, dass die Statuen komplett unsichtbar wurden, eingehegt in hölzerne Schrankwandgevierte, anzusehen gleich aufrecht stehenden Särgen. Bloß dass die iranische Delegation nichts sehen müsse von dem, was in normalen Zeiten den Stolz der Stadt und des Erdkreises ausmacht.

Ganz anders die Visite beim römischen Bischof: Papst Franziskus und Präsident Ruhani posierten aufgeräumt vor einem Gemälde, das die Auferstehung Christi zum Thema hat. Wäre das nicht eigentlich die größere und schwerwiegendere Zumutung für den hochgestellten Muslim gewesen? Zwar wird im Islam Jesus als der bedeutendste Prophet vor Muhammed verehrt, man weiß sogar, dass Isa als Sohn der Maria ein Jungfrauenkind ist – aber bei Karfreitag und Ostern scheiden sich die Geister dann doch in höchstem Maß. Und dennoch begab sich der Repräsentant eines Staates, der einmal angetreten war, für alle Muslime dieser Welt zu sprechen, offensichtlich unaufgeregt unter ein Bild, das eben dieses Urereignis der christlichen Botschaft darstellt. Political correctness hätte doch hier eine vollständige Bedeckung des Motivs mit sichtundurchlässigem Stoff einfordern müssen, oder?

Diese unterschiedlichen Umgänge mit ein und demselben Gast lassen sich womöglich allzu rasch erklären. Italien scheint sich, wie so viele europäische Staaten, nun auch völlig unterworfen zu haben – durchaus im Sinne einer sousmission Houellebecq’scher Dimension, mit einer selbstauferlegten „politisch korrekten“ Zurücknahme und Verleugnung, die sowohl den „neuen Rechten“ als auch den Islamisten in die Hände spielt; und die andererseits alle in der Nachfolge der wirklich idealistischen Europäer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Schlagbäume niederrissen, ratlos und traurig zurücklässt. Der Vatikan hingegen steht felsenfest zur abendländischen Tradition. Dieser gehört eben nicht nur Theologie und kirchengeschichtlich Gewordenes zu, sondern alle Kunst und Kultur, die im Christentum irgendwann Geltung erlangt hat, die vorchristlichen Zeiten unbedingt einbeschlossen. Was wir als „europäische Werte“ mittlerweile allzuoft nur noch als inhaltsleere Monstranz vor uns hertragen, aber bei jeder heiklen Situation dann doch ängstlich verstecken, das wirkt – ich als Lutheraner in heutigen Zeitläuften muss das neidlos anerkennen – im römischen Kirchensystem unerschrocken selbstverständlich und daher beeindruckend standhaft einfach weiter.

Wir stehen an einer Wegscheide. Europa, das wird an diesem römischen Vorfall deutlich, darf niemals identisch werden mit dem, was in Brüssel oder ferngelenkt in Amerika vorentschieden wird. Was uns durch die Römischen Verträge einst zugesichert wurde, war ein Kontinent in Frieden und Wohlstand mit Grundlage der christlichen Kultur, einschließlich ihrer Vorboten und Nachwirkungen. Das heißt aber auch, dass wir mit all dem uns selbst ins Abseits befördern, was wir für Vertreter anderer Kulturen aus eigener Initiative heraus, in vorauseilendem Gehorsam,  als „peinlich“ oder „diskriminierend“ oder „nicht wertschätzend“ bloß vermuten und vermeinen. Als eine Kapitulation entlarvt sich solch ein – von geistreichen Zeitgenossen treffend benannt: – „betreutes Denken“, das zum Lachen wäre, wenn es nicht so böse Folgen nach sich zöge. Denn wer sich verkriecht, aus Furcht, er könne anecken, hat schon verloren.

Kenner der nahöstlichen Welt sagen uns jeden Tag, wie sehr die Menschen aus jenen Gefilden sich über die sogenannten Gutmenschen unter uns lustig machen. Und es bleibt dann nicht beim harmlosen Spott, sondern es entwickelt sich eine Respektlosigkeit, die kein Mensch wollen kann, wohnt in ihm noch ein Funke von geistig-energischem Wahrhaftigkeitsstreben in Hinsicht auf gottesfürchtige Barmherzigkeit und weltbürgerliche Humanität. Nur so lassen sich kleinkarierte Ängstlichkeit und brutaler kultureller Ausverkauf stoppen. Es wäre für unseren guten alten Kontinent jammerschade, wenn alle künftigen Wege ins schöne Rom vor dummen hölzernen Verschlägen endeten. Holzwege kennt die Welt schon mehr als genug.

 

 

 

 

 

Hoffmann

Vor zweihundertvierzig Jahren, am 24. Januar 1776, kommt im ostpreußischen Königsberg ein Kind namens Ernst Theodor Wilhelm zur Welt, Sohn des verkrachten Ehepaares Hoffmann, das sich zwei Jahre später scheiden lässt. Modernität in ihrer tragischen Ausformung liegt also, zweifelhaft „zeitgemäß“, von Anfang an in diesem Lebensweg beschlossen. Schon früh zeigen sich indes vielfältige Begabungen. Aus Verehrung für Mozart ersetzt der Endzwanziger seinen „Wilhelm“ deshalb durch „Amadeus“. Seitdem kennt ihn die musikalisch, zeichnerisch und literarisch geneigte Öffentlichkeit als E.T.A. Hoffmann. Es gibt wenige, die das geschafft haben: als gebunden durchgesprochenes Buchstabenkürzel in die Kulturgeschichte einzugehen. „Ethea“ hielt ich in jungen unschuldigen Jahren vom Hörensagen her für einen eleganten Mädchennamen – ein bisschen vergleichbar vielleicht dem kleinen Theodor W. Adorno (auch ein bekannter Kürzelträger, wenngleich nur eindimensional), der bei Beethovens Waldsteinsonate an einen Stein im Wald dachte…

… bis ich als Vierzehnjähriger Hoffmanns Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ kennenlernte: Von deren leidenschaftlicher Wucht wurde ich gleichsam übermannt, geht es doch darin um Verbrechen und andere Kleinigkeiten. Der pränatal eingepflanzte Zwang des Goldschmieds Cardillac, sich seine verkauften Unikate nächtlich raubmordend wieder anzueignen, wird derart überzeugend – neudeutsch: „alternativlos“ – in Anschlag gebracht, dass man einigermaßen dankbar einen vagen Begriff davon bekommen kann, was wir heutzutage an dem aufgeklärt-humanen Rechtsstaat haben, der immer auch den Motiven für Straftaten nachspürt und selbst dem wegen schlimmster Vergehen Angeklagten die Möglichkeit gibt, sich zu erklären.

An einer menschlichen Justiz hat Hoffmann von Berufs wegen mitgewirkt, als studierter Jurist im preußischen Staatsdienst in Posen und Plock, in Warschau und Berlin. Der Kammergerichtsrat sitzt zum Ende seiner Laufbahn im Oberappellationssenat, wo über Berufungen gegen vorangegangene Gerichtsurteile letztinstanzlich entschieden wird. Zudem ist er Mitglied der nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 eingesetzten „Immediatkommission zur Ermittelung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“. Da kann er gewissermaßen von innen heraus die Machenschaften und Vorverurteilungen eines zunehmend diktatorisch geprägten Behördenapparates studieren. Haben ihm diverse treffsichere eigenhändige Karikaturen, auf denen sich hochmögende Posener Bürger wiedererkannten, bereits in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts eine Strafversetzung eingebrockt (oder, wie man mit dem Namen des Verbannungsortes kalauern mag: eingeplockt), strengt man nun, in Zeiten einer Mischung aus Stasi-Überwachungswahn, Mc-Carthy-Ära und Patriot-Act-Manie, aufgrund eines die kriminalistischen Zustände ironisierenden Kapitels im „Meister Floh“ ein Disziplinarverfahren gegen ihn an. Wer will sich schon vorführen lassen als unfähiger Fahnder, der bloße Willkür walten lässt und zur Not völlig Unschuldige zu Tätern macht! -Die Entlassung wird nur deshalb nicht wirksam, weil Hoffmann am 25. Juni 1822 seiner letzten schweren Krankheit erliegt.

Nun könnte der Eindruck entstehen: Eigentlich ein versierter Beamter, der sich dummerweise bei einigen künstlerischen Unregelmäßigkeiten – womöglich an sich nicht schlimm und einem Scheidungskind vergebbar – hat ertappen lassen. Musste das denn sein? Um gleich die Antwort zu geben: Ja. Denn Hoffmann ist nicht erledigt, wollte man ihn außerhalb seines Brotberufs etwa als Hobbymusiker, Gelegenheitszeichner oder Möchtegernschriftsteller abtun. Die Kunst ist ihm keineswegs eine Freizeitbeschäftigung, vielmehr wird sie frühzeitig nicht nur seine zweite, sondern im Selbstverständnis seine allererste Natur: Der staatstragende Wilhelm verschwindet zugunsten eines – romantisch verstandenen – Amadeus. Diese identitätssteigernde Mozartverehrung eröffnet ihm ein phantastisches Geisterreich, ein üppiges Seelenleben, wo sowohl Humor als auch abgrundtiefe Finsternis herrschen dürfen, in aller Freiheit. „Cosi fan tutte“ und „Don Juan“ sind ihm gleichbedeutend, also das heitere Vexierspiel in der einen wie die hoffnungslose Verdammung zur Hölle in der anderen Opernmusik. Der Königsberger Schüler und Student nimmt alles hellwach auf, was an neuer Musik an sein Ohr dringt. Hoffmann ist immerhin schon fast sechzehn Jahre alt, als die Nachricht vom allzu frühen Ableben Mozarts sich verbreitet. Wiener Klassik und Berliner Frühromantik sind also noch im Werden. Von einem Beethoven ist Anfang der 1790er Jahre noch nichts Genaueres bekannt. Hoffmann erteilt Musikstunden mithin ganz im gängigen mozartschen Geist, inclusive Amouren mit seinen Schülerinnen & cetera … Liebeslied und Liebesleid ergänzen und umschlingen einander, oft ist das eine vom anderen nicht zu unterscheiden. Mit Freunden trifft er sich zu literarischen Abenden, in frühromantischer Begeisterung für alle erdenklichen Welträtsel, doch zugleich – in der Stadt des bis 1804 lebenden Professors Immanuel Kant! – in gesunder Skepsis gegen die irdischen Sinne, die bekanntlich ja auch täuschen können.

Als Referendar in Berlin nimmt Hoffmann die Gelegenheit wahr, sich professionell musikalisch weiterzubilden. 1801, bei einer Reise nach Königsberg, Danzig und Elbing, trifft er seinen besten Freund Theodor Gottlieb von Hippel wieder. Ein erstes eigenes Singspiel kommt zur Aufführung. Das ist sein künstlerisches Debüt, zwei Jahre, bevor er auch als Schriftsteller mit gedruckten Texten in Erscheinung tritt. Dann geht es Schlag auf Schlag: Nach seiner Heirat 1802 zieht Hoffmann 1804 nach Warschau, wo dem Ehepaar eine – früh wieder verstorbene – Tochter geboren wird. Er findet dichterisch Anschluss an die Romantik, besonders im Austausch mit Zacharias Werner und Julius Eduard Hitzig. Zugleich gründet er die „Musikalische Gesellschaft“, bringt 1805 ein weiteres Singspiel auf die Bühne, komponiert eine Messe in d-moll und führt seine Es-Dur-Symphonie auf, in der Mozarts „Schwanengesang“ anklingt, aber auch die gerade veröffentlichte „Eroica“ Beethovens. Nach diesen „heroischen“ Tönen zieht denn auch L’Empéreur höchstpersönlich in Warschau ein. Die preußischen Beamten sind ihre Stellen los, die französische Verwaltung übernimmt mit ihren eigenen Leuten.

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Nach einem kurzen Aufenthalt neuerlich in Berlin, wo er vermutlich die meisten seiner fünf erhaltenen Klaviersonaten konzipiert, nimmt Hoffmann das Angebot an, als Kapellmeister an das Theater in Bamberg zu gehen. Von 1808 bis 1812 hält er sich dort notdürftig über Wasser, weil er gleich nach den ersten Wochen als Dirigent gemobbt und ausgebootet wird. Fortan ist er gezwungen, sich als Theaterkomponist, Kulissenmaler, Bühnenarchitekt und Musiklehrer zu verdingen. Alles, was er künstlerisch gelernt hat, lässt ihn in dieser wohl dunkelsten Zeit seines Erdenlaufs überleben. Und er findet Kontakt zur „Musikalischen Zeitung“, in der 1809 die Erzählung „Ritter Gluck“ erscheint. Weitere musikalische Dichtungen und Aufsätze machen Hoffmann vor allem als ebenso fachlich beschlagenen wie auch von der bis dahin unerhörten Ausdruckskraft namentlich der Beethoven-Symphonien beseelten tiefsinnigen Rezensenten bekannt. Wie absolut die reine Instrumentalmusik sein könne und inwiefern Mozart und Beethoven hier bleibende Maßstäbe setzen, ist eine von vielen Einzelfragen, denen sich Hoffmann unter dem Aspekt des „Romantischen“ und des „Phantastischen“ widmet. Ein weiterer Schwerpunkt seiner musikschriftstellerischen Tätigkeit ist die Kirchenmusik. Hier beeindruckt den Leser die Kenntnis namentlich der älteren italienischen musica sacra. Besonders intensiv aber setzt er sich mit der Oper auseinander, im Sinne eines Gesamtkunstwerks, das dem jungen Richard Wagner als Leitbild dienen wird. „Der Dichter und der Komponist“, im Geburtsjahr Wagners 1813 erschienen, liest sich nachgerade als programmatische Schrift für die künftigen Musikdramen des Bayreuther Meisters, aber auch als eine Dichtung, an die dann ein Friedrich Nietzsche anknüpfen kann mit seinem Gedanken der „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. Besonders auffällig ist in Hoffmanns Text, dass er, abgesehen von einer erzählenden Rahmenhandlung, im Hauptteil dialogisch gestaltet ist. Ein kleiner Nachhall von wirklichen Gesprächen unter Freunden? In dem vierbändigen, knapp tausend Seiten starken Buch von den Serapionsbrüdern werden uns solche Unterhaltungen in geselliger Runde dann mit allem Zubehör in epischer Breite und Länge, aber keinen Augenblick langweilig, vor Augen gemalt.

1813 und 1814 sehen wir Hoffmann als Kapellmeister und Schriftsteller in Dresden und Leipzig. Seine Märchenoper „Undine“ entsteht – sie wird 1816 in Berlin uraufgeführt – , nach der Vorlage von Friedrich de la Motte Fouqué. Und nun beginnt auch die Produktion seiner Bücher, für die er weltberühmt geworden ist: „Fantasiestücke in Callots Manier“, „Der goldene Topf“, „Die Elixiere des Teufels“. Ab 1814 ist er wieder als Beamter in Berlin; es folgen innerhalb der nächsten sieben Jahre „Nachtstücke“, „Die Serapionsbrüder“, diverse Märchen und, gegen Ende, „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Wahnsinnswerke in gellendem Humor, überbordender Komik, aber zugleich doppelbödiger Psychologie und künstlerischer Exaltation. Da ist in unzähligen Einzelstücken wie auch in ganzen Romanen viel von Tapetentüren die Rede, lüsternen Mönchen, verführten Töchtern, traurigen Musikautomaten und gelehrten Wissenschaftlern, die sich den neuesten Geheimexperimenten hingeben – oder dem Okkultismus frönen, wer weiß das schon so genau? Sprechende Tiere erweisen sich als die besseren Beobachter, öde Häuser und finstere Sandmänner lassen erschaudern. Von Wiedergängern und Maschinenmenschen ist zu lesen, die ganze moderne Welt in ihren grellen unwirklichen Freuden und tatsächlichen panoptischen Abgründen blitzt auf und dampft düster vor sich hin. Gern bleibt unklar, wo der Spuk beginnt, wo er endet – und ob er nicht vielleicht die Wirklichkeit eher trifft als das, was in Raum und Zeit greifbar erscheint.

Das alles hat in der künstlerischen europäischen Welt großen Eindruck hinterlassen. Robert Schumanns „Kreisleriana“ sind einer der ersten großen Nachklänge. Russische, angloamerikanische und französische Dichter mit Neigungen zur sogenannten „Schauerromantik“ haben ihren „Gespenster-Hoffmann“ gelesen. Tschaikowskis „Nussknacker“ setzt das gleichnamige Märchen in unsterbliche Töne, und die einzige große Oper von Jacques Offenbach behandelt „Hoffmanns Erzählungen“ in einer überzeugenden mélange. Paul Hindemiths „Cardillac“ nimmt sich des unheimlichen Stoffes aus dem „Fräulein von Scuderi“ an, und der „Sandmann“ ist in seiner Düsternis immer wieder ein Schreckensbild für die aufziehende, bis heute andauernde sogenannte „Moderne“. Übrigens gibt es ein eigenes Adjektiv, das auf unser Geburtstagskind verweist. Das hat für den allgemeinen Sprachgebrauch in literarischen Dingen meines Wissens seitdem nur noch Kafka geschafft. Mit der französischen Frageformel est-ce que, also „ist das wie“ – eingedeutscht: „esk“. „Wie bei Hoffmann“, also „hoffmannesk“ geht es zum Beispiel auch in Hesses „Steppenwolf“ zu, in den Spiegelkabinetten auf den hinteren Seiten, wo Mozart am Ende nur noch lacht …

In seinem einzigen Brief an Hoffmann schreibt Beethoven am 23. März 1820: „Ich ergreife die Gelegenheit, durch Herrn N. mich einem so geistreichen Manne wie Sie sind, zu nähern. Auch über meine Wenigkeit haben Sie geschrieben, auch unser Herr N. N. zeigte mir in seinem Stammbuche einige Zeilen von Ihnen über mich. Sie nehmen also, wie ich glauben muss, einigen Anteil an mir. Erlauben Sie mir zu sagen, dass dieses von einem mit so ausgezeichneten Eigenschaften begabten Manne Ihresgleichen mir sehr wohl tut. Ich wünsche Ihnen alles Schöne und Gute“ … So hat Ernst Theodor Amadeus Hoffmann gewirkt. In Abwandlung eines Wortes des Grafen Waldstein an den jungen Bonner Meister, als der im Begriff stand, nach Wien zu gehen, ließe sich sagen: Hoffmann hat Mozarts Geist in Beethovens Händen weiterwirken sehen. Als Musiker hat er beide bewundert und sie als die unbestritten Größten anerkannt. Auch das hebt den modernen Romantiker aus Königsberg weit über alle, die man „Kleinmeister“ nennt. Und das alles aus dem Geist der Musik.

Abbildung: Takte aus dem letzten Satz der Klaviersonate f-moll (Allroggen-Verzeichnis Nr. 27) von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann.

Merkel, Malu, Mali

Wir leben in seltsamen Zeiten. Noch nie war in Deutschland das beamtete Christentum so stark in den oberen Rängen vertreten. Unser Bundespräsident war früher einmal Pfarrer, unsere Bundeskanzlerin ist Pfarrerstochter. Und dennoch ist der christliche Glaube in unserem Gemeinwesen auf dem Rückzug. Von einer Theokratie kann also niemand sprechen. Alle Kirchenkritiker sollten wissen, dass eben trotz Herrn Gauck und Frau Dr. Merkel unser demokratischer Staat weiterhin reibungslos funktioniert. Allenfalls irritieren müsste, dass das christliche Bekenntnis denn doch so wenig in den Köpfen und Herzen der bundesdeutschen Bevölkerung präsent ist. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Bürger ehrenamtlich in der Flüchtlingskrise helfen, ohne aber kirchlich affin zu sein? Und was ist von Leuten zu halten, die sich über „Religion“ echauffieren und dennoch ihren Beitrag leisten, um den Migranten zu helfen?

Vielleicht wirkt hier eine Form der Aufklärung nach, die sich dem, wagnerisch gesprochen, „Reinmenschlichen“ verschrieben hat. Ja, richtig gelesen, „wagnerisch“. Ich meine tatsächlich Richard Wagner, von dem ja mittlerweile die Saga umgeht, er sei ein Nazi gewesen. Aber wer im Jahre 1883 das Zeitliche segnete, wird kaum für deutsche Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts haftbar gemacht werden können. Und wir müssen uns eben den Wagner denken, der 1849, nach dem Aufruhr in Dresden, steckbrieflich gesucht wurde als ein Anhänger der 48er-Revolution. Dass er ein besonders frommer evangelischer Christ gewesen sei, ist eine andere Frage. Aber er entstammte eben diesem geistigen Milieu, als Thomasschüler in Leipzig, als Komponist des für die Dresdner Frauenkirche bestimmten „Liebesmahls der Apostel“, als Schöpfer des nicht vertonten eigenen Versepos „Jesus von Nazareth“, als „Lohengrin“, „Meistersinger“ und „Parsifal“. Sein „Holländer“ ist ohne Mendelssohns „Elias“ nicht zu denken, einmal abgesehen vom lutherischen Impetus im „Rienzi“ und im „Tannhäuser“ –  oder von der Bachschen Polyphonie im Nürnberger Drama, im „Tristan“ und im gesamten „Ring“. Wenn jemand Aufklärung popularisiert hat in Deutschland, dann waren es Wagner und seine Mitstreiter. Das kirchliche Christentum wurde bei ihnen geweitet in eine Weltanschauung, die sowohl dem wissenschaftlich Zweifelnden als auch dem künstlerisch Begeisterten Heimat verschaffte. Manchmal wird das als „Menschheitsreligion“ bezeichnet.

Goethe, Kant und Mozart waren dafür „Urväter“ und Vermittler, Schleiermacher, Hegel und Beethoven folgten ihnen auf je ihre Weise nach. Lessing, Leibniz und Bach gingen ihnen voran, und niemand von diesen Großen hätte sich nur im entferntesten vorstellen können, dass diese Form von Bildung und Anstand in der Katastrophe des sogenannten „Dritten Reichs“ enden würde. Wäre man doch nur beim „Ersten Reich“ geblieben, jenem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das 1806, einfach so mitten in den Sommerferien, aufgelöst wurde … Aber wir wollen ja nicht klagen. Es ging weiter, und nun haben wir es heute mit einer Kanzlerin zu tun, die, gut evangelisch, Gutes mit Gutgemeintem vermengt, vermischt und am Ende verwechselt.

Es ist die „Alternative für Deutschland“, die nun alles durcheinanderbringt. Diese Partei hatte sich zunächst durch ihre Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung bekanntgemacht. Mittlerweile hat sie sich ihrer finanzpolitischen Elite entledigt und zeigt ihre Pegida-Fratze. Aber in diesem abscheulichen Tun legt sie den Finger in die Wunde eines abgehalfterten Europa, das zwar immer von „Werten“ spricht, zugleich jedoch die eigenen christlichen Errungenschaften in Abrede stellt. Die „politische Korrektheit“ greift derart um sich, dass das Reichsmuseum zu Amsterdam nun beispielsweise meint, alle irgendwie als anstößig empfindbaren Titel unter unsterblichen Rembrandtgemälden verändern zu müssen. Wie doof ist das denn?

Hier im föderalen Deutschland  entblödet sich eine Ministerpräsidentin nicht, einer „Elefantenrunde“ einen Korb zu geben, weil eben unliebsame andere Parteien ihre Vertreter in die Sendung des Südwestrundfunks schicken könnten. Liebe Frau Malu Dreyer, Sie sind einfach nur feige. Wenn Sie schon Böses ausgemacht haben wollen, dann stellen Sie sich doch furchtlos und engagiert und argumentativ super bewaffnet diesen Gegnern! Wahlkampf ist etwas anderes als eine jener schrecklich langweiligen neudeutschen Podiumsdiskussionen, auf denen sich am Anfang wie am Ende alle immer nur liebhaben!

Schließlich, nach Merkel und Malu, ist noch eines geschundenen Landes zu gedenken. Aus ihm kommen meines Wissens kaum Flüchtlinge hierher. Aber sie wären unbedingt willkommen, sollten sie sich aus ihrem Land auf den Weg machen. Dort, in den Bibliotheken, lagert literarisches, philosophisches und musikalisches Weltwissen. Es ist die Tragik unserer Zeit, dass wir vor lauter Islamhasserei diesen kulturellen Schätzen keine Aufmerksamkeit, kein Nachdenken, kein Gehör schenken. Dabei wäre es die Mystik, die alle Religionen versöhnen könnte. Da ist die jüdische Kabbala, die christliche innere Versenkung, die islamische Sufi-Bewegung. Seit Jahrhunderten. Von Mali aus wäre ein neuer Aufbruch doch zumindest denkbar. Oder? Weltmusik ist dort entstanden, die sich mit Psalmodien und Choralmelodien verbinden kann und auch international bereits verbunden hat. Wäre nicht die Musik, als echtes einmaliges Zeugnis des Abendlandes, bereit, sich mit ihren Vorfahren aus Jerusalem und Timbuktu zu vereinigen?

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Alles das ist möglich, wenn wir hier in Deutschland uns der eigenen christlichen Wurzeln bewusst bleiben. Denn man ist immer stark, wenn der eigene Glaube gepflegt wird. Eine „Islamisierung des Abendlandes“ muss niemand befürchten, der sich dem erlernten Christentum widmet und treu zu ihm steht. Pegida und die neuen Nazis halten nichts von den Kirchen – so wenig wie weiland die Machthaber des Dritten Reichs und der „DDR“. Und, meine lieben Kirchenleute, leider muss daran erinnert werden: Das Gutgemeinte ist nicht immer automatisch gut. Flausen im Kopf gehen an der Realität vorbei. Im übrigen gilt allen, die Merkel, Malu und Mali uneingeschränkt toll finden oder sie andererseits total ablehnen, das Wort, das einst auf Willy Wolke gemünzt war und uns immer wieder realpolitisch traurig macht, seitdem sein Urheber – wider Erwarten – dann doch mit 96 Jahren verstarb: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Abbildung: Detail aus „Madonna mit Kind und musizierenden Engeln“, Lombardische Schule um 1500, auf dem Schutzumschlag zu: Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters. Herausgegeben von Vera Minazzi unter Mitarbeit von Cesarino Ruini. Aus dem Italienischen, Englischen und Französischen übersetzt von Yvonne El Saman. Freiburg im Breisgau 2011.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ausdruck

Largo, con gran espressione – je langsamer, desto ausdrucksvoller, meinte wohl der junge Beethoven, als er den zweiten Satz seiner Klaviersonate Opus 7 mit dieser Vortragsanweisung versah. Spätere Komponisten haben ihr ganzes Sentiment dann gern in schwermütige, ja bisweilen stockende Musik gelegt. Das konnte wahlweise „romantisch“ oder auch fragmentarisch bis modern wirken. Verbunden damit war eine Entdeckung der Langsamkeit, die manchmal bis zur Überdehnung ausgekostet wurde. Schwelgen war unbegrenzt möglich, aber es taten sich auch Abgründe auf, die sowohl Schöpfer als auch Adressaten erschaudern ließen. Jedenfalls öffneten sich die Tore von Phantasie und Freiheit, im Nachsinnen gefühlt endloser Tongemälde und beseelter Klänge, in denen Herzensangelegenheiten zum Ausdruck kamen.

Dies alles scheint versunken zu sein. Höher, weiter und vor allem: schneller muss heutigentags alles gehen. Nicht mehr Schritt um Schritt, sondern nur noch: Wir sausen mit. Sogar im Urlaub sind wir erreichbar. Schreibt eigentlich noch jemand Tagebuch? Waren das nicht „schöne, glänzende Zeiten“, als ein Brief von Hand erschaffen, in den Umschlag gesteckt, mit Briefmarke versehen und zum Postkasten gebracht werden musste? Jede Botschaft war einmalig, unverwechselbar – neben der Kultivierung einer eigenen Schreibschrift wuchs da auch der Charakter mit. Und man bekam ja verlässlich Antwort, ebenso handgemacht und höchstpersönlich. Wer an „Neuland“ dachte, meinte Novalis – und nicht das Internet.

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Aber es geht eben weiter. Auch das ist eine – klaglose – abendländische Erkenntnis. Beim späten Beethoven gibt es dafür ebenfalls eine Steilvorlage, die Überschrift zum ersten Satz aus Opus 90: „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“ … Wer die e-Moll-Klaviersonate hört oder gar selber durchtastet, wird von Entschlossenheit, Grimm und Trauer gleichermaßen fortgerissen. Schroff und schrill, leidend und liebend ist espressione ausgeträumt und zugleich ebenso deutsch bodenständig wie überirdisch flüchtig geworden. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Hat der Meister aus Bonn deshalb zum Ende hin im ungeliebten Wien immer öfter Zuflucht zur Fuge gesucht? Warum wird überhaupt die Krönung musikalischen Denkens seit jeher fuga genannt, also „Flucht“? Ein Nachhall der Bestimmung des kainitischen Menschen, der Städte baut, Zivilisationen gründet und doch wegen seiner blutigen Vergangenheit „unstet und flüchtig“ bleiben muss?

Aus dieser Nummer kommt niemand von uns Lebenden heraus. Was uns in dieser Welt helfen kann, ist, diesem bewegenden Zustand Ausdruck zu verleihen. Ohne ideologische Scheuklappen, ohne „politische Korrektheit“, ohne Schelte gegen Religion, Kultur oder Kirche. Geistreiche Kritik ist selten geworden, aber dafür umso notwendiger. Vielleicht haben Argumente ja doch noch Kraft. Es sieht zwar derzeit nicht danach aus, dass ausgerechnet durch Sprache unsere Welt gedeutet oder gar geläutert würde. Aber Probieren geht immer noch über Studieren. In diesem Sinne versuche ich mich am Ausdruck. Expressive Musik ist gedanklich immer mit dabei. Greifen wir dem Schicksal in den Rachen!

Abbildung: Beginn der e-Moll-Klaviersonate op. 90 von Ludwig van Beethoven.