Schmucktelegramm

Vor einigen Tagen erreichte mich hier folgende Nachricht: „Glückwunsch zum Jahrestag mit WordPress.com! Du hast dich vor einem Jahr auf WordPress registriert. Danke für dein Vertrauen. Weiter viel Erfolg beim Bloggen!“

Das ist doch mal was Schönes!  Es macht mich aber andererseits auch wehmütig, weil ich an die vielen Konvolute denke, die unpubliziert in meinen Schubladen und Regalen schlummern, seit Jahrzehnten nun schon. Haufenweise eng beschriebene Papiere, teils lose Blätter in sogenannten „Stehsammlern“ oder Schnellheftern fixiert, teils brave Seiten in gebundenen Kladden – alles sehr haptisch, überbordend materiell.

Mein Entschluss, einen eigenen Weblog zu betreiben, löste im Freundeskreis seinerzeit ebenso Verwunderung aus wie einige Jahre zuvor mein Beitritt zu Facebook, Instagram und WhatsApp. Als ich mich von meinem Uralt-„Nokia“-Mobiltelefon trennte und mir ein „Smartphone“ zulegte, sahen viele meiner Bekannten – wiewohl selbst schon lange mit diesen Accessoires bestückt – in diesem Schritt so etwas wie den Untergang des Abendlandes.

Da war es an mir, dem hoffnungslos Konservativen, meinen Freunden zu sagen, man müsse schließlich mit der Zeit gehen … Richtig ist allerdings, dass ich immer erst dann modern werde, wenn die anderen sich schon über meine Rückständigkeit amüsieren und geradezu mit Sympathie herumerzählen, sie kennten da jemanden, der diesen ganzen neumodischen Kram nicht mitmache. In der guten alten Zeit wurde jemand wie ich „Spätentwickler“ genannt.

Insofern habe ich stets enttäuscht. Weil ich schließlich doch mich dem Fortschritt ergab und eine gewisse Schnurrigkeit hinter mir ließ. Die Gegenwart der Vergangenheit streifte ich ab, einen Zustand mithin, der manchen ungestüm vorwärtsstrebenden Freunden so etwas wie Sicherheit und Verankerung gegeben haben mag, nach dem Motto: Ich kenne einen, bei dem der Ursprung noch gewahrt und also lebendig ist.

Aber keine Sorge! Ich bin noch rückblickend genug, um zu phantasieren, dass obiger Glückwunsch „früher“ in Form eines Schmucktelegramms den Adressaten erreicht hätte. Oder als Dankesschreiben mit kunstvoll verschnörkelten Buchstaben in französisch stilisierter Kursivschrift. Oder gar als Urkunde, zum Ehrenplatz bestimmt in gerahmtem Aufputz überm Bett. Indessen: Welch ein Aufwand an Holz, Glas und Metall wäre das gewesen!

Heutzutage schwärmt man vom papierlosen Büro. In den Niederlanden soll es das schon geben, bis hin zum Abort. Die venezolanische Toilettenpapierkrise ist somit hochtechnisiert überwunden, frage mich bitte niemand, wie genau. Ich wundere mich ja bereits über die Urinale auf Autobahnraststätten, die angeblich ebenso wasserlos funktionieren wie die neuen Chefetagen holzfrei. Bleibt nur festzuhalten, dass mein Weblog ebenfalls einen kleinen Beitrag leistet zur großen Entmaterialisierung des Alltags im Rahmen des digitalen Zeitalters.

Ich hätte sowieso keine Schublade mehr frei für die hier unter dem Label „ausdruckweblog“ versammelten Beiträge. Insofern kommt mir der technische Fortschritt sehr entgegen. Aber andererseits ist er doch etwas sehr Vertrautes: Die Umwandlung des Leiblichen geht einher mit der Stärkung des Klanglichen. Insofern wohnt dem Internet etwas zutiefst Musikalisches inne. Raum transformiert in Zeit: Konzerte kann man nicht sehen. Allerdings gilt zugleich: Ein Telegramm wird ein Telemann nie werden. Keine Metamorphose vollzieht sich bruchlos. An der Nahtstelle zwischen Schöpfung und den Geschöpfen des Prometheus bricht sich Kreativität Bahn.

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Oberflächlich wahrgenommen ist das digitale Neuland stumm wie ein Fisch im Wasser. Sonar wäre da einiges zu heben – wenn die Frequenzen erkannt sind. Und vielleicht hat der alte Victor Hugo ja doch recht mit seinem Bonmot: „Musik ist ein Geräusch, das denkt.“

Dass Haydn und Beethoven einander verblüfft empfahlen, als die Musik des Feuerbringers verklungen war, muss uns im Gedenkjahr des Hamburger Director musices durchaus beschäftigen: Georg Philipp Telemann, gestorben vor 250 Jahren, war Pate des „großen Bach“ Carl Philipp Emanuel, den wiederum Haydn sehr verehrte, – und womöglich Ideengeber für jenes ominöse e-moll-Seitenthema, das im ersten Satz von Beethovens Dritter Symphonie die heroische Es-Dur-Stimmung so wunderbar eintrübt.

Ich schweife ab. Was ich eigentlich nur sagen wollte anlässlich dieses nun fünfundzwanzigsten Beitrags in meinem eigenen Weblog: Vergesst mir die Musik nicht! Beglückwünscht mich zum Silberjubiläum! Der abstraktesten, weil rein klingenden Kunst wegen habe ich den Begriff „Ausdruck“ gewählt. Dies sei betont in papierlosem Telegrammstil.

Foto: Schulkonzert. Telemann fehlte nie.

Alpha und Elphi

Mit Elbwasser getauft „im Hamburgischen Staate“ als seinerzeit kleiner Neubürger des ehemaligen Amtes Ritzebüttel kann mir niemand übelnehmen, dass ich mich über die Eröffnung der Elphi einfach freue. Kaispeicher A hat eine spektakuläre Bebauung erfahren, und obwohl die Entstehungszeit der Elbphilharmonie am Ausgang der „Hafencity“ nun um ein Vielfaches überschritten wurde – was die Kosten zehnmal erhöhte – , so finde ich nichts Unrechtes oder gar Nichtberechtigtes daran. Gut Ding braucht eben Weile.

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Ein Konzerthaus hat immer seinen Sinn. Was dem kulturellen Leben dient, ist allemal besser als zum Beispiel ein Flughafen, der so gar nicht fertig wird, weil man in der Hauptstadt verlernt hat, ordentliche Rolltreppen zu konstruieren – im Gegensatz zu unserem Tor zur Welt, wo ab jetzt sogar eine großzügig und elegant gebogene Version dankbares und begeistertes Staunen hervorruft. „Made in Germany“ ist nicht gleich überall und allerorten Ausweis für deutsche Wertarbeit. Das schmuddelige Berlin mit seinen projektierten Unisex-Toiletten hat da keinen Stich gegen den ausgeprägten Bürgersinn des feinen Hamburg, wo mitunter zwar auch gern spintisiert wird, aber das Ergebnis am Ende stimmt.

Das Programm zur Eröffnung hatte man im Vorfeld geheimhalten können. Es dominierten nach dem Festakt – unter anderem mit Brahms (Hamburger Jung) – im ersten Teil Benjamin Britten, Bernd Alois Zimmermann und Olivier Messiaen; im zweiten Teil erklangen Wagner und Beethoven nebst einer Auftragskomposition von Wolfgang Rihm. Also viel zeitgenössische Musik, „Avantgarde“ sozusagen, von etlichen Teilnehmern der „sozialen Medien“ in Grund und Boden kommentiert. Da manifestiert sich die Freiheit von jeglicher Sachkenntnis in schönster Reinnatur (und eben nicht: Reinkultur)! Völlig unverbildet, irgendwie aber durchaus interessiert und darob sehr fröhlich fallen sie reihenweise über den Dirigenten Thomas Hengelbrock ebenso her wie über die Musik selbst. Geballte Kompetenz, obwohl man die E-Musik des vorigen und jetzigen Jahrhunderts ja auch unter dem Aspekt der Ursprünglichkeit betrachten könnte …

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„Neue Musik“ ist etwas für Alphatiere, da wird quasi das Rad neu erfunden, es beginnt alles noch einmal mit Adam und Eva. Alpha, der erste Buchstabe des griechischen Alphabets (daher ja der Begriff: von Alpha, Beta, Gamma, Delta …), ist nun leider nicht dem ersten Wort der Bibel als beginnendes Initial vergönnt gewesen. In der Septuaginta startet die Erschaffung der Welt mit einem Epsilon,

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im hebräischen Urtext, nur ein klein wenig näher am Ursprung, mit einem Bet – doch knapp daneben ist bekanntlich auch vorbei. Ganz zu schweigen von der lateinischen Übersetzung, die anhebt mit In principio, ergo mit dem neunten und beileibe nicht mit dem ersten Buchstaben.

 

Jüdische Ausleger des Mittelalters haben sich eingehend mit der Frage befasst, warum die Schöpfung nicht mit dem ersten hebräischen Buchstaben Alef beginnt, sondern eben mit dem zweiten, während sie den alphabetischen Beginner sogar erst als den Dritten im Bunde einführt. (Kleiner Wink auf unsere erlebte nicht ganz so perfekte Welt? Aber das wäre ein anderes Thema …)

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Im Prinzip kam dann erst Luther zum Schluss: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Wer B (hebräisch), E (griechisch) oder gar I (lateinisch) anlautet, muss endlich auch A sagen können, so geschehen beim 500-Jahres-Reformationsjubilar,

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allerdings nicht weiter beachtet in der Zürcher Bibel von 2007

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und schon gar nicht von der „Bibel in gerechter Sprache“ aus dem Jahr 2006,

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wo man in Zwischenzeilen herumeiert, also eher Verwirrung stiftet denn den Beginn einer guten und – bei aller von allzu heutiger naturwissenschaftlicher Lesart bemäkelten Unzeitgemäßheit – in sich schlüssigen, göttlich logischen Ordnung präsentiert.

Von musikalischer Warte aus betrachtet ist wohl nirgends mehr Wahrheit ausgesprochen als in den ersten drei Versen des Buches Genesis. Nichts wird ins Werk gesetzt, ohne dass es vorher im Wort des Schöpfers erklingt: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht“. Nach diesem Prinzip ist der gesamte erste Schöpfungsbericht strukturiert; alles hier in tönend-bewegten Formen Hervorgebrachte trägt mithin die himmlische Sphärenharmonie in sich. Da erfüllt sich die Einheit von physikalischen Phänomenen und pythagoräischen Philosophemen, noch ehe sie von namentlich lutherisch-orthodox geprägten Theologen durchdacht und von Späteren für eine historisch informierte wie ästhetisch reflektierte Auffassung von Musik als Klangrede praktisch umgesetzt wurde.

Wen der Ausruf überkommen sollte: „O, mega!“, liegt wahrscheinlich voll auf Elphilinie samt all ihren gebauten Wellen. Die Silhouette, ihre durch die begleitende Lichtshow effektvoll inszenierte Skyline, hat durchaus etwas Geistvolles, schwebend auf dem Wasser. Alpha und Omega, A und O, Anfang und Ende, Beginn und Ziel … Es fällt angenehm schwer, da noch kritische Fragen zu stellen: Zwei Namen, so bemängelten einige wenige, fehlten im Konzertprogramm, Mahler und Telemann. Gustav Mahler hätte 2011, im ursprünglich vorgesehenen Jahr der Eröffnung, einhundertsten Todestag gehabt; und nun, 2017, ist Georg Philipp Telemann zweihundertfünfzig Jahre im Reich von Engeln, Elfen oder eben Elphen. Beide Musiker haben entscheidende Lebenszeiten in Hamburg zugebracht. Aber, gemach, die laufen ja nicht weg … – flüstert heiter das Orakel von Elphi.

Die Franzbrötchen damals in den Siebzigern, wenn meine Familie, mittlerweile anderswo sesshaft, Urlaub in Cuxhaven machte, bekamen wir eine Saison lang von Fräulein Elfi serviert. Wenn sie mal keinen Dienst hatte, fuhr sie nicht etwa in ihre süddeutsche Heimat, sondern sonnte sich am Grünstrand der Grimmershörnbucht und badete mit viel Harmonie in der Elbe. Die Hamburger Elbphilharmonie hat nun auch diese Erinnerung wiedergeweckt. Eindrücke vom Anfang des Lebens, von der archee, die sich tatsächlich mit Alpha am Beginn schreibt, analog dem baugründenden Kaispeicher mit A, vergisst man eben nicht. In diesem Sinne: Alles Gute, Elphi!

Foto: Die „Wappen von Hamburg“ fuhr in den siebziger Jahren täglich von Hamburg über Cuxhaven nach Helgoland und zurück.
Abbildung: Theater am Gänsemarkt, Aquarell aus dem Jahr 1827. Dort führte Telemann seine Opern auf. Aus: Karl Grebe: Georg Philipp Telemann. „rowohlts monographien“, Reinbek bei Hamburg, 9. Auflage 1996, Seite 58.