Stücke zu Samuel

Johann Sebastian Bach kam in Berlin zur Welt und starb, keine dreißig Jahre alt, in Rom. Dort, auf dem protestantischen Friedhof, nahe der Cestiuspyramide, wurde er begraben. Viele Kollegen trauerten um einen jungen Nachwuchskünstler, dessen Zeichnungen und Gemälde eine vielversprechende Zukunft verheißen hatten.

Wer jetzt an P.D.Q. Bach denkt, jenes fake, das es immerhin bis in die seriöse Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ geschafft hat;  oder wem die in großen Teilen frei erfundene Biographie des Wilhelm Friedemann Bach in Albert Emil Brachvogels vielgelesenem Roman aus dem Jahr 1858 in den Sinn kommt: – … liegt schon deshalb falsch, weil der „Hans“ gerufene Johann Sebastian Bach, der sich selber lieber „Samuel“ nannte, eben kein Musiker war, erst recht keiner wider Willen, sondern ein in seiner kurzen Lebensspanne zwischen dem 26. September 1748 und dem 11. September 1778 ungewöhnlich begabter und außerordentlich geförderter Jungstar im Reich der bildenden Kunst – und zwar vor allem in deren damals sehr beliebtem Zweig der Landschaftsmalerei, mit besonders ausgeprägtem Hang zu arkadischen, idyllischen und mythologischen Motiven.

Dieser Johann Sebastian Bach hat also wirklich gelebt und ist – Gott sei’s geklagt – tatsächlich an einer tückischen Krankheit gestorben, unerreichbar fern von den seit 1768 in Hamburg lebenden Eltern, die nur Geld schicken konnten für die Behandlung durch beste Ärzte – und zwischen Hoffen und Bangen schier verzweifelten. Sein Vater Carl Philipp Emanuel Bach schrieb nach dem Tod des jüngsten Sohnes in einem Brief: „Dächten wir nicht als Christen, die sein jetziges Glück wißen: so gäbe ich noch alles jetzt hin um ihn wieder zu haben.“

Erlöst von den Qualen eines nicht näher bekannten Leidens, heimgerufen in den hellen Himmel, dessen Schönheiten er idealiter so gern vermittels der erlernten Kunst in irdische Sinnlichkeit formte, eingefangen mit mediterranem Blick – und die er auch persönlich vorstellte im Wesen unerschütterlicher freundlicher Heiterkeit: Es ist, als ob in seinen Bildern etwas durchklingt von den Kantaten des Großvaters, der Musik schuf zu Texten wie: „Freue dich, erlöste Schar“ …

Was bringt mir das?

Noch ist Gelegenheit, mit dem Lesen dieses Beitrags aufzuhören. Er scheint ja so gar nichts Zeitgemäßes oder Aktuelles an sich zu haben … Wer sich indes für jene heutzutage in aller Munde geführten Rede von unseren gesellschaftlichen „Werten“ halbwegs interessiert, indem er zunächst ohne verzweckte Intention fragt: Welchen Inhalts sind die denn eigentlich? -: … kommt um die Kenntnisnahme von so zahlreich wie nur irgend möglich angeführten exempla aus dem mannigfaltig künstlerisch-kulturellen Leben unseres christlichen Abendlandes schlechterdings nicht herum. Ich bringe hier und heute, mit längerem Anlauf, nur ein einziges Beispiel.

Unmittelbarer Anlass für diese Zeilen war die unumgängliche Wiederkehr des Jahrestages von Nine-eleven. Ein wenig ist über die Fixierung auf die massenmörderischen Geschehnisse von vor fünfzehn Jahren in Vergessenheit geraten, dass es auch vor dem annus horribilis 2001 einmal jährlich einen elften September gab. Hält man sich hier vorrangig (ja, so eingetrübt sind seitdem auch rückwirkend alle anderen Tage seines Vorkommens:) an traurige Ereignisse, die mit diesem Datum verbunden sind, dann ist der Schock des 11. September 1778 für die Familie Bach wie auch für die gesamte künstlerische Welt des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt nicht hoch genug einzuschätzen.

„Samuel“ war unter anderem insofern ein echter Bach, als er keine halben Sachen machte. Der Vater, die vielen komponierenden Onkel und Großonkel, davon abgestammt dann Heerscharen an künstlerisch tätigen Cousins und Großcousins, auch schon Neffen und Großneffen, besonders natürlich der meisterhafte Großvater nebst dessen Vorfahren, dazu alle möglichen angeheirateten Familienmitglieder, die auch im weitesten Sinne musisch sich betätigten … – sie bildeten in ihrer Gesamtheit eine regelrechte Künstlerdynastie, deren einzelne Glieder eigenständig, bisweilen eigensinnig, auf jeden Fall meistens beispiellos souverän agierten, in welcher beruflichen Stellung sie sich auch befanden.

Sie beherrschten ihr métier, und allein ihre unbestreitbaren Kunstfertigkeiten ließen sie, trotz allem Ärger im Alltag, groß und anerkannt sein. Durch den bloßen Umstand, dass sie einfach da waren und man nicht ohne weiteres an ihnen vorbeikam, riefen sie auch notorische Neider und Ignoranten auf den Plan; doch konnte das diesen geradlinigen Typen, auf ihre Kunst gesehen, nichts anhaben. Sie blieben, komme, was da wolle, bei der Anwendung ihrer Gaben und Fähigkeiten, und sauer wurden sie nur, wenn etwas mit der Vergütung nicht stimmte. Dann allerdings setzten sie sich hin und schrieben Briefe.

Johann Samuel Bach starb zu früh, als dass er sich mit unverständigen Arbeitgebern hätte herumplagen müssen. Es bleibt die in der Forschung gern gestellte, naturgemäß letztlich unbeantwortbare Frage, wie er sich als Künstler weiterentwickelt hätte … – Nun, er wäre, nimmt man seine von Zeitgenossen gerühmten Baumgruppen als Ausgangspunkt, vielleicht ein stetig in seinem Bereich fortschreitender und selbständig seine landschaftsentwerfenden Werke durchdenkender Meister geworden, die karrierefördernden Gelegenheiten des Lebens beim Schopfe packend, beseelt von einem ebenso bodenständigen wie phantasiegezeugten Ideal, das ihn getragen hätte auch durch persönliche, pekuniäre und politische Krisen hindurch –  den locus amoenus, den „lieblichen Ort“ immer vor dem inneren Auge.

Gestalterischer Wille auf dem Gebiet, das ich gut überblicke; wo ich mich einigermaßen auskenne: So motiviert wünschte ich mir die heutige Welt im nörgelig gewordenen Europa. Großzügig und realistisch zugleich, weder zu sehr nach „links“ noch nach „rechts“ abdriftend, völlig frei von jeglichem fundamentalistischen Eifer, dabei durchaus gottesfürchtig im besten Sinne des Wortes. Übrigens ist der Jungverstorbene bis zuletzt dem ererbten Glauben seiner Taufe und Konfirmation treu geblieben: Er wurde in nächtlicher Dunkelheit beerdigt, weil es im damaligen päpstlichen Rom keinen tageslichttauglichen evangelischen Ritus geben durfte.

Bleiben bei dem, woher man kommt. Fähigkeiten entwickeln aufgrund der Gaben, die einem mitgegeben sind. Sich nicht abbringen lassen von dem, was das eigene Leben so offenkundig bestimmt. Allerweltsparolen meiden. Und bei alledem ein fröhliches dankbares Gemüt bewahren. Der einzige in Italien begrabene Bach scheint das alles, trotz Krankheiten immerfort und allerorten, zeit seines kurzen Lebens beherzigt zu haben. Aber sehen wir nun im einzelnen, anhebend mit dem ungleich bekannteren gleichnamigen Großvater – ohne nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Mehr als Stücke zu diesem eigentümlichen „Samuel“ sind es nicht …

Künstlerische Mehrsprachigkeit

Johann Sebastian Bach, geboren am 21. März 1685 in Eisenach, gestorben am 28. Juli 1750 in Leipzig, ist ja seit jeher, wie übrigens auch sein zweitgeborener Sohn Carl Philipp Emanuel, geboren am 8. März 1714 in Weimar, gestorben am 14. Dezember 1788 in Hamburg, ein dankbarer Fall für die Kalligraphologen unter uns: Wer ihre faksimilierten Briefe aus der einschlägigen Literatur kennt oder die Handschriften der Partituren vor Augen hat – diese aus sich selbst heraus so ausdrucksstarken und darum jedem Lesenden tief eindrücklichen Zeugnisse kräftiger Musik – , kann zur Not in Noten bleiben: beim Betrachten – und bedarf keines Hörens mehr. Er weiß bereits, dass hier Außerordentliches geschieht.

Hans Samuel Bach, dem die schwungvollen, gleichwohl energischen Punkte, Notenköpfe, Schlüssel, Striche, Fähnchen, Bögen, Bindungen und Ligaturen des Großvaters und Vaters in seiner eigenen eindrucksvollen Handschrift zu noch runderen und gleichmäßigeren Zügen gerieten, hat sich in anderer Weise zueigen gemacht, was an charakterlicher Überlieferung aus dem Geist der Musik ihm unweigerlich in die Wiege gelegt war. Anregend dürfte dabei auch die väterliche Sammlung von Portraitbildern berühmter Zeitgenossen gewirkt haben. Emanuel hat später, als er die Genehmigung erteilt hatte zum aus seiner Sicht doch recht ungewöhnlichen beruflichen Weg des Sohnes, dessen Fähigkeiten eingespannt zu Kopieraufträgen: Was er an Musikerbildnissen nicht käuflich erwerben konnte, malte ihm Sohnemann einfach ab.

Wir bezeichnen ihn als Johann Sebastian Bach d.J., auch J.S.B. junior oder JSB II. Doch im Unterschied etwa zu den Familien Holbein, Cranach oder Dumas, wo es Hans, Lucas beziehungsweise Alexandre gleichnamig als Vater: „den Älteren“ – und  Sohn: „den Jüngeren“ – gibt, ist hier eine Generation übersprungen und eben das künstlerische Metier gewechselt, äußerlich von ferne halbwegs vergleichbar mit Großvater und Enkel Christian Morgenstern, zwischen denen beiden sich die Landschaftsmaler(!)-Familientradition zur Allround-Artistik wandelt … Das Werk des jüngeren JSB ist dementsprechend cum grano salis die Fortsetzung von bukolischen Arien wie „Schafe können sicher weiden“ mit anderen Mitteln.

Der Großvater hätte durchaus Lust gehabt, viel mehr „Weltliches“ zu komponieren, als ihm das nach seinen glücklichen Jahren am Hof zu Köthen dann in Leipzig möglich war. Er fuhr ja gern mit seinen ältesten Söhnen Friedemann und Emanuel nach Dresden, um dortige Opernaufführungen zu genießen. Welch anregende Abwechslung von den drei Leipziger Dienstgebern Kirche, Kommune und Kaffeehaus!

Italien war dort mit Händen zu greifen; die Stadtansichten eines Canaletto d.J. (d.Ä. war ein Onkel) führen es uns bis heute vor Augen: jenes helle Wunderland, Ursprung der Oper, Hort von Musikhauptstädten wie Venedig mit Antonio Vivaldi oder Neapel mit Alessandro und Domenico Scarlatti (Vater & Sohn) – im Elbflorenz war es optisch und akustisch, architektonisch und musikalisch, politisch und konfessionell ebenso handfest wie vergeistigt: omnipräsent! Dresden wurde später denn auch einer der Studienorte des dritten Sprosses von Emanuel beziehungsweise des gleichnamigen Kindeskindes von Opa Sebastian.

Sein selbstgewählter „Samuel“ ist, wenn nicht vielleicht gar prophetisch von Belang, so doch zumindest ein raffiniertes Akronym, gebildet ausnahmslos aus Buchstaben von Vaters und Großvaters Rufnamen. Auf der realen Ebene spielt der in Meiningen tätige Zweig der Familie eine Rolle, wo es unter anderem einen Bach namens Samuel Anton (1713-1781) gab, der zugleich Hoforganist und Maler war. Eine persönliche Bekanntschaft mit Emanuel rührt daher, dass er, fast gleichaltriger Vetter soundsovielten Grades, bei seinem „Onkel“  JSB I in Leipzig Orgelunterricht erhalten hatte. Er dürfte also auch später in Berlin und Hamburg Gegenstand von Gesprächen gewesen sein.

Das so typisch Bachsche Kombinationsgeschick zeigt sich dann bei JSB II also einmal mehr – vielperspektivisch und hintergründig, technisch makellos und zugleich gemütvoll warmherzig, künstlerisch-menschlich in immer wieder verblüffender bodenständiger und zugleich entrückter Einheit: Augenmusik und Ohrenschmaus verschmelzen da auf wundersame Weise.

In vielen seiner Sonntagskantaten sowie in den Passionsmusiken hat JSB I, teilweise zum Schrecken der Leipziger städtischen Hautevolée, hochdramatische Töne angeschlagen. Und andererseits ist etwa in der Einleitung der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums die Hirtenidylle in ihrem ganzen sehnenden Frieden so bildhaft vertont, dass dieses Instrumentalstück zu einem Inbegriff der Gattung „Pastorale“ werden konnte. Immer wieder Ausbrüche aus der vertraglich abgesteckten Welt der Erfordernisse und Erwartungen, mal heftig, mal ruhig – und meistens angeregt durch die neuesten musikalischen Entwicklungen südlich der Alpen …

Beim zeichnenden und malenden Enkel scheinen die Emotionen auf den ersten Blick zurückgenommen, alles ist im Geist von rokokovermeidender Empfindsamkeit und antikenbegeistertem Frühklassizismus ebenso leuchtend wie ausgeruht durchgestaltet. Eine früh gereifte Virtuosität wird erkennbar, die dem Sohn des „Berliner“ und später „Hamburger Bach“ gewiss, wie einst Georg Friedrich Händel (1685-1759), einen ehrenvollen Zutritt in die stadtrömische „Schäferakademie“ verschafft hätte – wenn, ja wenn er nicht im zarten Pergolesi-Alter den irdischen Eindrücken gepflegter Honoratioren bei gastfreien Abendgesellschaften und Ateliergesprächen so grausam endgültig entschwunden wäre.

„… nach Italiaenischen Gusto“

Italien im Leben der Familie Bach – das ist ein eigenes Kapitel. JSB I hat das Land, dessen Sprache bis zum heutigen Tag als musikalische lingua franca fungiert, nie gesehen. Von klein auf aber hat sich sein wacher Intellekt für italienische, also für die damals modernste Musik interessiert, um sie in Bearbeitungen und Eigenschöpfungen weiterzugeben. Insbesondere nahm er sich der Werke von Antonio Vivaldi (1678-1741) und Tomaso Albinoni (1671-1751) an, richtete sie für Orgel oder Klavier oder Instrumentalensembles ein – oder verwendete ihre Themen für eigene Fugen.

Auch Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) wurde eingemeindet, in einer Kantate, wo er dem Stabat Mater des frühverstorbenen Neapolitaners einen anderen (deutschen) Text unterlegte („Tilge, Höchster, meine Sünden“) und es so in Leipzig bekanntmachte. Auch gibt es da dieses Concerto nach Italiaenischen [sic!] Gusto, aus dem Zweiten Teil der Clavierübung von 1735, das vor Freude überströmt und ebenso in Untiefen schwelgt – eine Aneignung fortschrittlichster Kunst ersten Ranges.

Im selben Jahr, da das Italienische Konzert gedruckt erschien, wurde seinem Schöpfer der jüngste Sohn geboren, Johann Christian. Nach dem Tod des Vaters, 1750, kam der Fünfzehnjährige in die Obhut seines Halbbruders Emanuel nach Berlin. Man nennt ihn auch den „Mailänder Bach“, weil er im Alter von zwanzig Jahren nach Italien zog und somit auch seinem damals siebenjährigen Neffen JSB II für immer Lebewohl sagte.

In Bologna wurde er vom später auch den jungen Mozart so prägenden musikbeflissenen Padre Martini unter die Fittiche genommen und zum Kirchenkomponisten nach ortsüblicher Manier (sprich: italienischem Gusto) ausgebildet. Dafür nahm er sogar in Kauf, römisch-katholisch zu werden, was ihm vom Rest der Familie schwer verübelt, nämlich als Verrat am Stammvater angekreidet wurde. Veit Bach (um 1550-1619) war einst als protestantischer Glaubensflüchtling von Ungarn nach Thüringen gekommen … – und so ein ungezügelter Nachfahr wurde Organist am Mailänder Dom!

Dieser dem Luthertum abspenstig gemachte Bach entdeckte seine wahre Liebe nun in der Beschäftigung mit jenen „schönen Dresdener Liederchen“, von denen sein Vater immer geschwärmt hatte: Er reüssierte in der Opernwelt, vor allem in Neapel. Von dort verbreitete sich frohe Kunde über ihn bis an die Italienische Oper in London, so dass 1762 diesem Mann von Welt ein drittes Land zur Heimat wurde, das Vereinigte Königreich.

Der einzige Bruder, der den Kontakt zum Konvertierten aufrechterhielt, war Johann Christoph Friedrich, der sogenannte „Bückeburger Bach“ (1732-1795): Er, vielleicht der  Bodenständigste aus der vierköpfigen Musikermännerriege unter den insgesamt zehn erwachsen gewordenen Kindern des Thomaskantors, hat, zusammen mit seinem Sohn Wilhelm Friedrich Ernst (1759-1845), also einem direkten (Halb-)Cousin Johann Sebastians d.J., den „Englischen Bach“ Anfang des schicksalhaften Jahres 1778 für drei Monate auf der Insel besucht.

Im London der 1760er Jahre tat Johann Christian sich mit einem Musiker namens Abel zusammen, dessen Vater in Köthen gemeinsam mit JSB I in der Hofkapelle gewirkt hatte. Die beiden Söhne gründeten ein Konzertunternehmen sowie eine Männer-WG, die solange bestand, bis Christian des Kompagnons Geliebte heiratete, eine reiche italienische Sängerin – was aber nicht daran hinderte, dass das intime Verhältnis der beiden vormals Liierten weiterlief, nur jetzt ergänzt um finanzielle Vorteile auch für Bach.

Diese mitzunehmen war wohl bitter nötig: Indes half alles nichts, die immer weniger besuchten „Bach-Abel-Konzerte“ trieben alle Beteiligten in den Bankrott, und zu den Folgen getreu dem „Brauch von Alters her: / Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ gesellten sich Krankheiten, die zum Tod (1782) des jüngsten Bachsohnes mit noch nicht einmal 47 Jahren führten. Man begrub ihn auf einem katholischen Friedhof in englischer Provinz.

Die Königin höchstpersönlich übernahm ausstehende Schulden ihres verstorbenen Klavierlehrers, so dass dessen Witwe nach Italien zurückkehren konnte – in jenes Land, das dem Verblichenen kompositorische Fähigkeiten erweckt hatte, mit denen er die gesamteuropäische musikalische Sprache bis heute hin prägt. Das „singende Allegro“ hat er sozusagen erfunden; eine heitere, zupackende, leichte, optimistische Art ist vielen seiner Stücke eigen. Die Anfänge des Sinfonikers Mozart (1756-1791) sind ohne ihn, der als „Londoner Bach“ mit dem achtjährigen Wolfgang Amadé gemeinsam Klavier spielte, undenkbar.

Erfahrungen und Erwägungen

„Onkel Christian ist jetzt in Italien“ – das ließ die Phantasie des kleinen JSB II vermutlich kaum unangeregt. Vater Carl Philipp Emanuel, Hofcembalist Friedrichs des Großen, hatte seinerzeit alte Beziehungen zu einer befreundeten Adelsfamilie aufgefrischt, um den ungestümen Halbbruder nach Milano zu vermitteln. Dass es auch den eigenen Sohn in südliche Gefilde ziehen könnte, legte sich nahe, als die zeichnerische Begabung des Jungen überdeutlich hervortrat.

Das war spätestens mit der Übersiedlung von Berlin nach Hamburg der Fall, wo Emanuel Bach das Amt seines verstorbenen Paten Georg Philipp Telemann (1681-1767) als Kantor am Johanneum und städtischer Musikdirektor aller fünf Hauptkirchen übernahm. Was JSB I in Leipzig gewesen war, wurde dessen Zweitgeborener nun, 1768, an Elbe und Alster. Dort entfaltete er in seinem Haus ein reges hanseatisch feines gesellschaftliches Leben, zu dem auch die Präsentation seiner Gemäldesammlung gehörte. JSB II, schon in der Ausbildung, blieb in Berlin und ging 1770 in die Stadt an der Pleiße, wo sein Großvater als Director musices amtiert hatte.

Vier Tanten, Schwestern seines Vaters, lebten in Leipzig in einer Frauen-WG zusammen: Die verwitwete Elisabeth Juliana Friederica Altnickol (1726-1781), außerdem die unverheiratet gebliebenen Bachtöchter Catharina Dorothea (1708-1774), Johanna Carolina (1737-1781) und Regina Susanna (1742-1809). Eine Biographin heutiger Zeit schreibt dazu: „Inwieweit der junge Student allerdings Interesse am Kontakt mit seinen ‚alten Tanten‘ hatte, bleibt fraglich.“

Übrigens hat das jüngste Bachkind später Empörung unter der komponierenden Männerwelt ausgelöst. Als nämlich bekanntwurde, dass Regina Susanna, die letzte noch lebende Tochter des großen Johann Sebastian Bach, von Altersarmut betroffen war, initiierten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Ludwig van Beethoven und andere mitfühlende Musiker eine deutschlandweite Spendenaktion.

Zurück zu Emanuel und seinem Nachwuchs: Der Berlin-Hamburger Bach hat in bezug auf seinen Sohn ganz offenkundig viel Erfahrungsweisheit walten lassen. Am Bruder Wilhelm Friedemann (1710-1784), dem „Hallischen Bach“, sah er, wohin väterlicher Ehrgeiz führen konnte. In allerbester Absicht hatte JSB I seinen Ältesten gefördert, gefordert – und überfordert. Friedemann hielt sich auf keiner Organistenstelle lange, nachdem er sein Amt an der Sophienkirche zu Halle an der Saale verlassen hatte. Sein hochfahrendes Wesen bot ständig Anlass zu Streitereien und Zerwürfnissen. Zuletzt war er freischaffender Künstler in Braunschweig und Berlin, gerühmt als bester Orgelspieler weit und breit, aber immer knapp bei Kasse, stets auf der Kippe ins soziale Elend. Brachvogel bezieht aus diesem Sachverhalt seinen romantisierenden plot. – Solch Mitgift wollte Emanuel den eigenen drei Kindern ersparen; Berufsmusiker übrigens wurde keines von ihnen.

Anderes kam hinzu: JSB I, mit zehn Jahren bereits Vollwaise geworden, litt zeit seines Lebens darunter, niemals ein Hochschulstudium absolviert zu haben. Nach äußerlich abfragbarem Bildungsstand ist er immer nur ein „Musikant“, also ein Handwerker geblieben, auch wenn er ja später in Leipzig unter anderem für das musikalische Leben an der Universität zuständig war. Die Söhne sollten es besser haben. Neben der Trauer um seine in Köthen verstorbene erste Frau Maria Barbara und dem Wunsch nach einem veränderten Umfeld für seine zweite Ehe mit Anna Magdalena spielte bei der Bewerbung um das Thomaskantorat auch die Zukunft seiner Ältesten als studiosi in spe eine Rolle: möglichst in einer Stadt mit allen Ausbildungschancen! Tatsächlich fing Emanuel in Leipzig mit einem Jurastudium an, um sich schließlich doch die Musik zu erkiesen – dies dann allerdings, wohlgemerkt, abgenabelt im weit genug entfernten Frankfurt/Oder, also: freiwillig!

Für Carl Philipp Emanuel Bach dürfte demnach der Schluss nahegelegen haben, den eigenen Nachwuchs nicht zwingend auf die ars musica festzulegen – sondern ihn eher gemäß den jeweils eigenen Gaben und Fähigkeiten ideell und materiell zu unterstützen. Denn was soll man von einem Sohnemann erwarten, der sich die Last des „Sebastian“ abschüttelt und sich lieber nach einem Verwandten in Meiningen beziehungsweise einem knorrigen alttestamentlichen Propheten nennt? Das Potential zur offenen Rebellion wäre vorhanden gewesen, hätte der Vater nicht klug eingelenkt – Familientradition hin oder her.

Noch etwas: Zu Zeiten, da man sich in der besten aller Welten wähnte, da die Universalität eines Leibniz noch nachwirkte und man den scharfsinnigen Voltaire als Aushängeschild in Potsdam bei Hofe herumreichte, – da wurden viele Lehrbücher verfasst, die im Sinne der Aufklärung die natürlichen Anlagen eines Individuums fördern wollten, sofern dieses sich für ein Handwerk oder eine Kunst entschieden und festgelegt hatte. C.Ph.E. Bach hat für sein Fach die Anleitung geschrieben: „Versuch über die wahre Art, Clavier zu spielen.“ Das war das Gegenstück zur Flötenschule von J.J. Quantz, und weil der König ja die Querflöte so sehr liebte und eifrig blies – sich auf deren Grundlage auch komponierend ins Zeug legte – , gab es des öfteren interne Rangeleien um die höfische Gunst zwischen dem Chef der Bläser und dem der Tasten.

Dieser Konflikt zwischen Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Joachim Quantz war dem heranwachsenden Samuel sicherlich genausowenig verborgen geblieben wie die fama von der Unverschämtheit des Alten Fritz, dem Großvater 1747 bei dessen Besuch in Sanssouci auf der Flöte ein extra schweres Thema vorzugeben, aus dem der berühmte Gast dann allerdings das ebenso atemberaubende wie anstrengende „Musikalische Opfer“ schuf. Dass professionell betriebene Tonkunst keineswegs nur Zuckerschlecken sei, hat JSB II von Kindesbeinen an also durchaus mitbekommen und auf seine Weise verinnerlicht.

Entfaltung eigener Kunst

In Berlin und Potsdam erhielt Johann Samuel Bach Unterricht beim Radierer (und späteren Baurat sowie Zeichenlehrer preußischer Prinzen) Andreas Ludwig Krüger (1743-ca. 1805). Die Fertigkeit, mit der Nadel Metall so zu traktieren, dass daraus ein ansprechender Tiefdruck resultierte, wurde im achtzehnten Jahrhundert immer mehr vervollkommnet. Eine Weihnachtskantate des Großvaters beginnt mit den Worten: „Christen, ätzet diesen Tag / In Metall und Marmorsteine!“ – und zu Hause erzählte dem Schüler der stolze Vater gewiss, wie er selber seinem alten Herrn einst beim Notenstich für die „Kunst der Fuge“ zur Hand gehen musste, der Gefahr, durch Verblitzung zu erblinden tapfer sich aussetzend, allein dem erregenden Werk dienstbar. Wie vormals JSB I, so stach vorübergehend auch JSB II zu höherem Ruhm.

In Leipzig setzte der Twen seine Ausbildung fort bei Professor Adam Friedrich Oeser (1717-1799), Sohn sächsischer Eltern, gebürtig aus Pressburg (wie weiland Veit Bach als Spross thüringischer Einwanderer aus Wechmar?), künstlerisch belehrt und geprägt in Wien. Als er Samuel bei sich aufnahm, hatte er schon Jünglingen wie Goethe und Winckelmann das Zeichnen beigebracht, unter dem Einfluss der Werke Salomon Gessners, des nachmaligen Gründers (1780) jenes Journals, das sich seit 1821 „Neue Zürcher Zeitung“ nennt und bis heute an genauer Analyse des Allfälligen fast sämtliche andere deutschsprachige Gazetten weit überflügelt.

Dieser Gessner wirkte als Buchhändler, Verleger, Politiker, Schriftsteller und Zeichner, er repräsentiert die deutschschweizerische Variante eines vielseitigen Künstlers in weltbürgerlicher Absicht. Immerhin hatten ihn seine Lehr- und Wanderjahre bis nach Berlin und Hamburg geführt, ehe er die Familientradition fortsetzte und die ererbte Buchhandlung in Zürich übernahm.

Gessner (1730-1788) war bekanntgeworden durch seine Verse und Idyllenmalereien, worin er Bukolisches oder Pastorales, also Szenen aus dem als unbeschwert gedachten Leben antiker Viehhirten ausführte im Sinne einer starken Aufmerksamkeit für die Landschaft. Quellgrund dieses sympathischen Genres waren die Dichtungen des alten Griechen Theokrit (um 300-260 v. Chr.), die schon den alten Römer Vergil (70-19 v. Chr.) und im italienischen Mittelalter den alten Dante (1265-1321) und den nicht ganz so alten Petrarca (1304-1374) inspiriert hatten. Heitere, bisweilen derb humorvolle bis offen erotische Darstellungen einfachen, unbekümmerten, ungebundenen Lebens auf dem Lande unter mediterraner Sonne oder während lauschiger Nächte in freier Natur zogen die verstädterten Gebildeten des siècle des Lumières nachgerade magisch an.

Ihrem sanften Bann entzog sich auch JSB II nicht; er zeichnete und malte Bilder, Vignetten, Entwürfe in diesem und somit in Oesers Sinn. Rasch wurde er mit seinen Werken Dauergast auf Kunstausstellungen in Dresden und verkaufte derart viele Zeichnungen, dass er von manchen seiner Exponate Repliken anfertigen musste. 1773 ließ er sich gänzlich in der sächsischen Residenzhauptstadt nieder. Er beteiligte sich von dort aus 1775 an einer Ausstellung in Weimar, wo er seinen Bekanntheitsgrad nochmals steigern und weitere Aufträge entgegennehmen konnte. Besonders die „Südländische Ideallandschaft“ erwies sich als Erfolg, und so entstand im Folgejahr, beim sechsmonatigen Aufenthalt im Elternhaus in Hamburg, das einzige erhaltene und ihm zweifelsfrei zuzuordnende Ölgemälde.

Südländische Ideallandschaft

Italien unbekannterweise mit Anleihen beim Elbsandsteingebirge – kein Motiv hat JSB II häufiger variiert als dieses Landschaftsbild. Dessen gezeichnete Fassung von 1776 aus dem Bestand des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle habe ich mit eigenen Augen im Original betrachtet und dabei das Passepartout gemäß den freundlichen Anweisungen des dortigen Fachpersonals einigermaßen fingerfertig umtastet und behutsam gehandhabt. Zu sehen ist folgendes:

ideallandschaft

Links vorn beginnt die Szenerie mit reichlichem Laub- und Rankenwerk eines in abgeschattetes Licht getauchten großen Baumes. Im Vordergrund, am unteren Bildrand, steht die Statue der Göttin Flora, einen Siegeskranz in Händen haltend, mitsamt Rauchgefäß – und daneben eine Blickpunktvase auf steinernem Postament. Davor tummeln sich Frauen und Kinder, teilweise auf breiten Treppenstufen, die, von einer Mauer eingefasst, nach rechts hin sanft ansteigen. Die Personen bringen der Göttin kleine Opfergaben dar. Zwei der Kinder reichen Kohlen an die Frau nächst dem Standbild, die sich so als eine Priesterin erweist. Dieser ganze „heilige Bezirk“ wird in weitem Rund von einer Blütenhecke eingehegt.

Im sich in die Tiefe öffnenden Hintergrund sieht man ein breites Gewässer, gesäumt von Büschen und Bäumen, alles von der Sonne beschienen. Zwei Männer sind am rechten Ufer erkennbar auf einer flachen Wiese. Weiter hinten verläuft ein von vier sichtbaren Doppelöffnungen durchbrochener, römisch gemauerter Aquädukt. Rechts begrenzt, ab der Mitte des Bildes, eine bewaldete Anhöhe den Ausblick in die Landschaft; diese verliert sich im sonnigen Dunst bewaldeter Hügel. Oben rechts befindet sich ein schräg nach vorn zum Betrachter ausgerichteter griechischer Tempel, dessen Portikus von vier Säulen bestimmt wird. Davor liegen umgestürzte Grabsteine und Säulenreste, dahinter türmen sich Ruinen in einem beginnenden Nadelwald.

Es ist eine arkadische Komposition, die angeregt sein könnte von einer Szenerie „nach der Natur“ in der Sächsischen Schweiz. Die antikisierende Phantasie des Künstlers, nach dem Vorbild von Lehrern und Kollegen, geht über die konkreten lokalen Gegebenheiten dann aber so weit hinaus, dass im Ergebnis ein schöner Ort erschaffen ist, der ohne Beispiel bleibt und an dem sich alles harmonisch zusammenfügt. Sogar das durch die friedhöflichen Überbleibsel oben am Tempelberg in Erinnerung gerufene memento mori verursacht nicht die geringste mentale Störung beim Betrachter. Trotzdem ist es da: Der Tod lebt immer mit, wenn auch trümmerhaft und ziemlich weit weg von Frauen und Kindern und Männern.

In manchem Gegenstück hat JSB II anstatt des rechteckigen heidnisch-sakralen Bauwerks einen Rundtempel gezeichnet, an etlichen Stellen demoliert und eher eine romantisierende Ruinenstimmung vorwegnehmend denn eine heitere Landschaft darstellend. Ein anderes, ein nächtliches sujet stellt auf die Anhöhe eine veritable mittelalterliche Burg, und wiederum in anderen Arbeiten kommt die Szenerie ganz ohne Bauten aus, dafür bevölkern nackte Hirtenjünglinge die buschige Situation, aus dem Unterholz emporwachsende Baumriesen inbegriffen. Blatt für Blatt scheint da extra gezeichnet zu sein, nebst individuell geäderter Struktur. Wo, wenn nicht hier, wird die Redensart von „jedem Grashalm“ schwerelos überboten und damit hinfällig?

Helle mediterrane Idyllen mit ernsthafteren arkadischen Beimischungen, zwischen bukolischem Humor und endzeitlicher Tragik hinundherflirrend gleich dem Lichtschattenwechsel der in friedlicher Sehnsucht immer und immer wieder auftauchenden Büsche und Bäume – darin eingestreut allerdings so manches Mal ein Sarg, ein Denkmal, ein Gedenkbrunnen, eine Pyramidenspitze, sogar bisweilen etwas angedeutet Kirchliches … Johann Sebastian Bach der Jüngere hat sich vor und nach seiner „Südländischen Ideallandschaft“ in seinem Fach gründlich umgesehen, und man vergisst beim Erleben seiner besten Werke, aus welchem Land er eigentlich stammt. Europäischer Geist, aufgeklärtes Denken, beginnende romantische Überhöhung aus antik-klassischem Sinn: Mit diesem intellektuellen Gepäck strebte der junge Mann gen Italien.

Venedig sehen – in Rom sterben

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) befürwortete und unterstützte die Absicht, dass der begabte Sohn seines Hamburger Freundes im Gelobten Land der Künste studieren könne, ja müsse. Nach Dresden schrieb er einem befreundeten Bibliothekar über den soeben im September 1776 abgereisten JSB II, man solle ihm am besten jetzt schon Aussichten eröffnen auf eine künftige Anstellung in der Akademie, denn es sei sicher, dass er „gewiß einen eben so großen u. originellen Mahler verspricht, als seine Vorfahren Tonkünstler gewesen sind“. Von Hamburg startend steuerte der mit solchen Vorschusslorbeeren Bedachte zunächst die Metropolen Wien, Triest und Venedig an.

Mitten im Karneval traf der Kunststudent in der Lagunenstadt ein. Dort erlebte er Dresdner Liederchen venezianisch liederlich – immerhin Anlass für die einzige überlieferte Äußerung Johann Sebastian Bachs des Jüngeren zum beruflichen Hauptbetätigungsfeld seiner Familie. In einem Brief an Professor Oeser berlinert er: „Von dem Zustande der Musick und Opern hatte ich mich auch größere Begriffe gemacht“ … Über gesehene Werke der bildenden Kunst heißt es einige Sätze weiter: „Viele Gemählde die noch vor gut ausgegeben werden sind auch ihrem Untergange nahe, indeßen ist noch immer die Anzahl der wohl erhaltenen Gemählde so groß, daß man in Versuchung fallen kann Courier vorbeyzureiten; dieses wäre beym Tintorett am ersten zu entschuldigen, und ich muß gestehn daß mich dieser Meister mehr in Verwundrung gesezt als gefallen hat.“

Nach diesem musikkundigen und tintorettokritischen Aufenthalt in der Serenissima reiste JSB II weiter über Bologna (dort, wo Onkel Christian und Wolferl Gottlieb Motzhard sich speziellen sakralmusikalischen Studien unterzogen hatten), Ancona, Loretto und Terni. Eigentlich war geplant, auch Florenz zu sehen. Doch witterungsbedingt fuhr ab der ältesten europäischen Universitätsstadt keine Kutsche in Richtung Uffizien, so dass ein anderes Modul gewählt werden musste, ein Bologna-Prozess sui generis, und unser Held dann eben flexibel umdisponierend sowie frisch modulierend erst für die Rückreise eine Rast am Arno projektierte.

Im Februar 1777, senza Firenze, doch guter Dinge und nicht auf ewig hintendran sich wähnend, weil ein Vorhaben mal nicht geklappt hätte und nun ein Rückstand in Form von unerlaubt steigender Semesteranzahl im Modus eines Tadels zu gewärtigen und jetzt schon wortreich zu beklagen wäre –, erreichte er Rom.

Von den deutschen Künstlern, die dort ihr Zelt aufgeschlagen hatten, wurde der Achtundzwanzigjährige herzlich in Empfang genommen. Als väterlicher Freund erwies sich vor allem der Maler Reiffenstein, der den bald Erkrankten durch drei quälende, medizinisch für notwendig erachtete und finanziell vom Vater ermöglichte Operationen begleitete und betreute. Ende 1777 galt der junge Mann als geheilt, und eine letzte Schaffensperiode brach an. Mythologische Motive, römische Ruinen und sogar seine eigene Ruhestätte, der cimitero accattolico, wurden 1778 durch ihn ins Bild gesetzt. Gezeichnet vom wiederaufflackernden Krankheitsbild starb der Zeichner so hell-lebendig-gesund-sehnsüchtiger Bilder plötzlich und unerwartet am bezeichnet-bezeichnenden elften September.

Lebendige Erinnerungen in Moll

Dem trauernden Vater in Hamburg blieb nur der Nachlass, den man von Rom nach Norddeutschland schickte – und der eigene musikalische Ausdruck. Ein Rondo in a-moll für Klavier – mit schmerzlich verminderten Akkorden, chromatischen Bass-Abstiegen, wilden Arpeggien und harmonisch kühnen Rückungen – widmete er dem vor der Zeit weit weg von zu Hause Verstorbenen. Das Stück ist so etwas wie ein musikalisches Portrait. Was sonst ein Ratevergnügen im illustren Kreise abendlicher Salongespräche war – „Madame S. hört man sofort in den punktierten Achteln heraus“ – wird hier zu einem tombeau, einer Grab- und Gedenkmusik auf den Charakter des so Verewigten. Die frischen Wesenszüge stehen auf Bruchkante mit den untröstlichen Empfindungen des Hinterbliebenen, so dass ein zerrissener Eindruck hervorgerufen wird. https://www.youtube.com/watch?v=8OWLud86UM8

Seltsam mutet an, dass nur wenige Wochen vor dieser Klage auf Tasten ein ungleich wütenderes a-moll-Stück entstand, im fernen Paris, wo sich Mozart mit seiner Mutter aufhielt: als diese plötzlich verstarb. Der Kopfsatz seiner ersten von insgesamt nur zwei Moll-Klaviersonaten beginnt mit einem marschmäßigen Thema, das in gezackter Rhythmik und schmerzlicher Dissonanz einem musikalischen Aufschrei gleichkommt. – Ebenfalls in dieser Tonart steht das eigenartige Klavierstück „Abschied von Rom“, komponiert von Fanny Hensel als Nachklang eines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt im Jahre 1840. Und: Schließt nicht die „Italienische“ Symphonie ihres Bruders Felix Mendelssohn gleichfalls in traurig-tänzerisch-grimmigem a-moll? Tod und Trauer, Abschied und Erinnerung: Abendländische kunstfertige Klänge wachsen hinüber zu denen, die weiterleben müssen …

Wir, hier und heute, haben den aufstrebenden Johann Sebastian Bach, frühverstorbenen hoffnungsvollen Enkel des gleichnamigen Klangtitanen, so gut wie vergessen. Dank seiner familiären Herkunft haben manche Bachforscher versucht, neben der Musikwissenschaft sich auch Grundkenntnisse in der bildenden Kunst anzueignen. Das ist nur zu begrüßen. Und es ist förderungswürdig in einer Zeit wie der unsrigen, die nicht mehr bloß fachidiotisch agiert, sondern langsam auch, in einer fatalen Drehung weiter, den Überblick darüber verliert, weswegen sie sich überhaupt mit Einzelerscheinungen aus Geschichte, Religion und sonstiger Kultur beschäftigen sollte. Vielleicht ist Fachsimpelei am Ende doch lebenszugewandter als jene alles egalisierende Bequemlichkeit, die nicht mehr sieht, wie auch das lichteste und leichteste Kunstwerk ein Ergebnis harter Arbeit und abgerungener Zeit ist.

Benutzte Literatur. Anke Fröhlich: Zwischen Empfindsamkeit und Klassizismus. Der Zeichner und Landschaftsmaler Johann Sebastian Bach d.J. (1748-1778), Oeuvre-Katalog. Mit einem biographischen Essay von Maria Hübner [Seiten 13-32]. Leipzig 2007 [Umschlagbild: Südländische Ideallandschaft 1776, davon die Abbildung in diesem Text]. — Martin Geck: Die Bach-Söhne. Hamburg 2003 (rowohlts monographien). — Peter Prange: Deutsche Zeichnungen 1450-1800. Katalog. Köln / Weimar / Wien 2007 (Die Sammlung der Hamburger Kunsthalle. Kupferstichkabinett. Band 1. Herausgegeben von Hubertus Gaßner und Andreas Stolzenburg). — Dorothea Schröder: Carl Philipp Emanuel Bach. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Hamburg 2003 (Hamburger Köpfe).
Zitatnachweise. „Dächten wir nicht als Christen …“: Carl Philipp Emanuel Bach in einem Brief an die Leipziger Schriftstellerin Julie Friederike Clodius, zitiert nach Schröder, Seite 86. — „Inwieweit der junge Student …“: Hübner in: Fröhlich, Seite 17. — „gewiß einen eben so großen …“: Gotthold Ephraim Lessing in einem Brief an den Bibliothekar Karl Wilhelm Daßdorf am 26. September 1776, zitiert nach Hübner in: Fröhlich, Seite 25. — „Von dem Zustande der Musick …“ und „Viele Gemählde …“: Johann Sebastian Bach d.J. in einem Brief an Adam Friedrich Oeser am 2. März 1777 aus Rom, zitiert nach Hübner, in: Fröhlich, Seite 26.