Van

Vor 250 Jahren kam er zur Welt – wenn es nach seiner eigenen Ansicht gegangen wäre. Beethoven kannte nämlich sein Geburtsjahr nicht genau. Am wahrscheinlichsten schien ihm und seiner Familie das Jahr 1772 zu sein.

Die Kurfürstensonaten von 1783, Klavierwerke eines Elfjährigen: Diese Altersangabe wäre dann keine Wunderkind-Allüre des vermeintlich notorisch schwindelnden und nur auf eigenen Vorteil bedachten Vaters, sondern unwillkürliche Folge einer falschen Grundannahme, die aber seinerzeit niemandem weiter auffiel. Von einer geschäftstüchtigen Vermarktung des Jungen kann übrigens generell keine Rede sein. Man hieß nicht Mozart.

Der erwachsene Ludwig van Beethoven ist der Frage nach seinem genauen Geburtsdatum tunlichst aus dem Wege gegangen. Heute wird es überwiegend mit dem 16. Dezember 1770 angesetzt, einen Tag vor der durch Kirchenbucheintrag verbürgten Taufe. Deshalb feierten wir vor zwei Jahren ganz groß den Zweihundertfünfzigsten …

Nun, ganz so groß fiel der runde Geburtstag dann doch nicht aus. Pünktlich zum 16. Dezember 2020 musste die Öffentlichkeit einmal mehr „wegen Corona“ zum Erliegen gebracht werden. Wir wissen heute, dass diese Art von Seuchenbekämpfung kaum geholfen hat. Auf der Strecke blieb vieles – unter anderem die Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Konzertlebens.

Mittlerweile interessieren sich ganz andere Kreise für „Ludwig van“: Er soll sehr schwarze Haare und einen dunklen Teint gehabt haben. Überdies sei er von einigen Mitmenschen „Spanier“ genannt worden. Und seine Kreutzer-Sonate habe er schließlich ursprünglich einem afrikanischstämmigen Geiger, Sohn eines „abessinischen Prinzen“, widmen wollen.

Sollte sich diese „woke“ Lesart verbreiten, dann wäre Beethoven wieder einmal aus dem Schneider. Schon vor über hundert Jahren sollte es ja seiner Musik an den Kragen gehen, in Westeuropa nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als man von den Konzertbühnen alles Deutsche entfernen wollte. Dann aber entschied man, Beethoven dürfe weiterhin aufgeführt werden, weil das „van“ im Namen die flämische Herkunft seiner Vorfahren erweise. So blieb der rheinisch-habsburgische katholische Weltbürger mit Wurzeln in den Spanischen Niederlanden also damals verschont: Louis der Belgier.

Hoffen wir, dass heutzutage, in neuen Kriegszeiten, die Kultur nicht wiederum zwischen die Fronten gerät. Abstammungsnachweise jedenfalls können im allgemeinen nicht über die Qualität von Musik urteilen. Beethovens übernationale und übrigens auch überkonfessionelle Kunst lässt dumpfes Raunen in Nur-Gut und Nur-Böse weit hinter sich zurück. Das haben viele durchaus verstanden. Warum sonst wurde ausgerechnet seinem Werk unsere „Europa-Hymne“ entnommen? In der Neunten Symphonie gibt es bekanntlich diesen schillernden „Kuss der ganzen Welt“ …

Übrigens: Wenn nicht neue Mutanten, Kriegstreiber oder andere Störungen der öffentlichen Ordnung auftauchen, dann gibt es in absehbarer Zeit bereits das nächste runde Beethoven-Datum, kein Jubiläum zwar, aber immerhin ein Gedenktag: Am 26. März 2027 jährt sich des gebürtigen Bonners Ableben in Wien zum zweihundertsten Mal. Das muss begangen werden. Wir beginnen gleich mit den Proben.

August 1806 in memoriam

Am 6. August 1806 endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Franz II. legte die römisch-deutsche Kaiserwürde ab und regierte fortan (nur noch) als Kaiser Franz I. von Österreich. Wien blieb also – wenn auch anders als bis dahin – eine Kaiserresidenz, und Haydns „Kaiserhymne“ konnte dort mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ noch jahrzehntelang gesungen werden. Wir stimmen auf diese Melodie heutzutage „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ an. Was aber bis in unsere Gegenwart musikalisch nachwirkt, kann doch nicht verwischen, dass damals eine regelrechte Zeitenwende besiegelt wurde.

Denn das Duell zweier Kaiser nahm eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. Seitdem ist es aus der Geschichte verschwunden, nach fast achteinhalb Jahrhunderten Bestand.

Am 2. Februar des Jahres 962 war einst der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt worden. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer geformt hatte.

Dieses ottonisch, später salisch und staufisch regierte Reich büßte im Laufe der Zeit immer mehr von seinen hehren Idealen und deren Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung ein. Im Investiturstreit zerrieben sich weltliche und kirchliche Herrschaftsträger wechselseitig. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs überdies das Selbstbewusstsein unter den Nachfolgern der ursprünglichen Lehnsnehmer. Und nach dem Verlust seiner europäischen Dimension seit dem 15. Jahrhundert galt das Reich nur noch „deutscher Nation“ angehörig. Die Wirren von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg setzten der tatsächlichen imperialen Macht der Kaiser weiter zu. Nun, 1806, hatte sich das Reich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt.

Kaiser Franz sah das Ende kommen und installierte 1804 für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der traditionellen Nachfolge der habsburgischen Erzherzöge.

Das Absterben des Alten Europa, dessen größten Gebietsanteil eben das Heilige Römische Reich deutscher Nation einnahm, begann mit der Französischen Revolution ab dem 14. Juli 1789. Damals, so sagt es ein Merksatz aus meiner Schulzeit, gab es in Deutschland ebensoviele Groß-, Klein- und Kleinststaaten wie man Jahre nach Christi Geburt zählte, also 1789: eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Deutschland war groß und der Kaiser in Wien weit weg: so erlebte man diese zerklüftete politische Landschaft gleich einem Flickenteppich.

Jeder Landesfürst war eifersüchtig auf seine hoheitlichen Rechte bedacht. Da gab es größere Herrschaftsgebiete wie etwa Preußen, Württemberg oder Bayern, sodann unzählige Herzogtümer und Grafschaften, dazu etliche Ritterschaften und Freie Reichsstädte. Alle ihre jeweiligen Herrscher oder Senatoren pochten auf ihre Eigenständigkeit. Sie schlossen Bündnisse mit ausländischen Mächten, waren mit ihnen dynastisch verbunden – etwa Hannover mit Großbritannien oder Oldenburg mit Dänemark und Russland – und verbaten sich normalerweise jedes Hineinregieren des Kaisers.

Und es gab die geistlichen Herrschaften, regiert von zumeist römisch-katholischen Fürstbischöfen. Diese Territorien waren es, die am schmerzlichsten die Wucht der politischen Veränderungen durch die Vorgänge in Frankreich zu spüren bekamen. Revolutionstruppen hatten das Rheinland besetzt. So ging seit Ende des 18. Jahrhunderts das ganze linksrheinische Gebiet des Alten Reiches verloren. Um die deutschen Fürsten zu entschädigen, löste man im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 in Regensburg nahezu alle geistlichen Fürstentümer auf und schlug deren Gebiete weltlichen Herren zu.

Mit dieser staatskirchenrechtlich bis heute bedeutsamen Flurbereinigung verschob sich insgesamt das konfessionelle Gefüge des deutschen Ancien régime. Mit einem Male erbten protestantische Herrscher mitunter auch kurfürstliche Funktionen. Es wurde dadurch unwahrscheinlich, dass eine evangelische Mehrheit in diesem erlauchten Kreise der Kurfürsten einen römisch-katholischen habsburgischen Kaiser bestätigen würde. Auch deshalb zog sich Franz II. lieber auf sein Stammland Österreich zurück.

Mit der Gründung des Rheinbundes in der ersten Jahreshälfte 1806, faktisch dem Austritt einer klaren Mehrheit von deutschen Staaten aus dem Reich, wurde ein weiterer Schritt von Napoleons Gnaden unwiderruflich vollzogen. So erlöste der römisch-deutsche Kaiser seinerseits den lebenden Leichnam heilig-römisch-deutscher Herrlichkeit und überließ ihn seinem Schicksal, zumeist in der Faktizität französischer Besatzung.

Das Römertum ging habituell auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun im Jahre 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 und 1806, sozusagen die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach mehr als neunhundert Jahren, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können.

Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging der Kaisertitel an ein kleindeutsches Reich über, absichtlich völlig losgelöst von den Habsburgern in Wien, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss: Die k.u.k. gutkatholische Doppeldonaumonarchie streckte ebenso die Waffen wie die preußisch-protestantische Hohenzollernherrschaft.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815 sah man überall in Europa nur noch auf die jeweils eigene nationale Prägung. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls selbstherrlich, spielte nun keine große Rolle mehr. Jegliches Denken im Sinne von karolingischen und ottonischen Großzügigkeiten wurde durch die maßgeblich Mächtigen des 19. Jahrhunderts eher verdrängt denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

Es musste der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Im Blick auf die ganze Welt geschah dies ab einem weitaus schrecklicheren 6. August: dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit den „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, war folgerichtig und ist nach wie vor begrüßenswert.

Die antike und christliche Grundlage Europas ist heutzutage fast völlig in Vergessenheit geraten, mit ihm zugleich ihre Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre sie neu zu erkennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), blieb im historischen Gedächtnis als zeitweiliger Erzieher von Otto III. gegenwärtig. Freilich war der bei Grundsteinlegung des Gotteshauses schon acht Jahre tot.

Gewiss: Die damaligen Umstände mitsamt der neu-alten „Rom-Idee“ des Enkels von Otto dem Großen sind mit den derzeitigen überhaupt gar nicht vergleichbar. Aber dieses Bauwerk, im schwärmerischen Nachgang christlichrömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums errichtet, hat immerhin alle Höhen und Tiefen der gemeinsamen europäischen Geschichte überstanden, ohne auch nur eine der vielen Zeitenwenden auszulassen.

22G+

Musikalisches Doppeljubiläum MMXXII: In den hundert Jahren zwischen 1722 und 1822 wurden Altes und Neues Testament erschaffen.

Vor drei Jahrhunderten schrieb Johann Sebastian Bach (1685-1750) das Deckblatt zum ersten Teil seines Wohltemperierten Klaviers, in eindrucksvoller Schönschrift. Und genau zwei Jahrhunderte ist es nun her, dass Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Komposition seiner letzten Klaviersonate abschloss, in kalligraphisch nicht ganz so einwandfreier Niederschrift.

Es muss aber auch gesagt werden, dass Bachs berühmtes Werk überhaupt erst im Jahre 1801 vollständig gedruckt erschien: bei Simrock in Bonn am Rhein, der Geburtsstadt Beethovens! Da waren knapp achtzig Jahre schon vergangen! Der Komponist von insgesamt zweiunddreißig offiziell gezählten Klaviersonaten hingegen sah die Veröffentlichung seines Opus 111 schon im gleichen Jahr seiner Fertigstellung. Doch war die Zeit in den 1820er Jahren auch verlegerisch längst reif und empfänglich geworden für das umfangreiche Schaffen dessen, der „nicht Bach, sondern Meer“ heißen sollte, wie der dritte Wiener Klassiker einmal bemerkte.

Ihm selbst, dessen 250. Geburtstag wir vor kurzem, so gut es eben ging, gefeiert haben, war Bachs Wohltemperiertes Klavier von Kindheit und Jugend an vertraut. Schon lange vor Drucklegung dieses epochalen Werks kursierten im Bachschen Haus, also zu Lebzeiten des Köthener Hofmusikers (1717-1723) und späteren Leipziger Thomaskantors (1723-1750), handschriftliche Kopien, angefertigt von Familienmitgliedern und Schülern. Die wurden wiederum abgeschrieben und so weiter und so fort … – so dass sich diese Musik buchstäblich „unter der Hand“ rasch verbreitete, um von Kennern und Liebhabern in ganz Europa studiert und gespielt zu werden.

Durch die Vermittlung des für seinerzeit schon ältere Musik empfänglichen Barons Gottfried van Swieten (1733-1803) kannten bereits Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) solche Abschriften und ließen sich durch sie zu eigenen Bearbeitungen anregen. Dem österreichischen vormaligen Botschafter in Berlin, der 1777 mit etlichen kopierten barocken Musikalien in die Habsburgermetropole zurückgekehrt war, entging auch nicht, dass der Jungstar Beethoven bei seinen ersten staunenerregenden Auftritten im Wien der 1790er Jahren gern aus Bachs Wohltemperiertem Klavier spielte.

Dem Bonner Hofmusiker und Wiener Starpianisten „Ludwig van“ waren Kenntnis und schöpferische Aneignung von Bachs Wohltemperiertem Klavier durch den Bonner Hoforganisten Christian Gottlob Neefe (1748-1798) zuteil geworden: Der stammte aus Chemnitz, war Thomaner in Leipzig gewesen, zudem studierter Jurist und lebenskluger Musiker in einer fahrenden Schaustellertruppe, ehe man in der gleichermaßen superkatholischen wie aufgeklärt-toleranten kurkölnisch-fürstbischöflichen Residenz zu Bonn die Gaben dieses evangelischen Freimaurers entdeckte und nichts dagegenhatte, dass er seine mitgebrachten Bach-Noten pädagogisch wertvoll einsetzte.

Neefes Unterricht prägte nachhaltig Beethovens künstlerische Laufbahn. Namentlich noch im ersten Satz von Opus 111, in den zweistimmigen laufwerkartigen Passagen, meint man den „alten“ Bach im energischen c-Moll präludierend und in der Durchführung sogar ein wenig fugierend herauszuhören.

Der ganze Kosmos Beethovenscher Klaviermusik ist, wie jede Komposition für besaitete Tasteninstrumente, überhaupt nur in solcher harmonischen Fülle möglich geworden dadurch, dass man in der Bachzeit die reine und die mitteltönige Stimmung zur „wohltemperierten“ weiterentwickelte – eine physikalische Glanzleistung! Man meliorisierte die Intervalle so, dass alle zwölf Töne der chromatischen Aufeinanderfolge innerhalb einer Oktave gleichberechtigt als Grundtöne fungieren konnten. Ohne kleine Schummeleien ging das nicht – aber hier führt einmal die Überlistung der Natur zu schönen Ergebnissen. Um solch neu gewonnene kreative Freiheit theoretisch und praktisch zu demonstrieren, stellte Bach seine Präludien und Fugen je paarweise zusammen, gleichnamiges Dur und Moll direkt hintereinandergeschaltet und dann in dieser Manier halbtonschrittweise aufsteigend jeweils die nächsten beiden Paare …

Den 24 wohltemperiertklavieristischen Pärchen aus Köthen ließ Bach in Leipzig zwei Jahrzehnte später (1742/44) noch einmal so viele folgen, gewissermaßen bei Durchsicht seiner Bücher: Den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Also zweimal 24 Präludien & Fugen, 48 Stücke pro Teil, 96 insgesamt! Stundenlang lässt sich darin stöbern und daraus spielen – das machte Bach selber gern: Wenn er keine Lust hatte, einem Schüler ausführlich Klavierstunde zu erteilen, dann setzte er den auf einen Stuhl und sich selbst ans Instrument, vergaß die Zeit und füllte sie zugleich aus … Einer der derart zum Zuhören geheißenen Eleven hat später berichtet, es sei ihm wie wenige Minuten vorgekommen: also alles andere als langweilig!

Das erste Paar bei Bach steht in C-Dur. In flexibler, sozusagen mutierter Betrachtung ist Beethovens letzte Klaviersonate in ihrer Zweisätzigkeit ebenfalls paarweise angelegt, c-Moll/C-Dur. Die hochdramatisierte Frage, warum es denn in Opus 111 keinen dritten Satz gebe, ist, bei aller geistreichen musikphilosophischen Auseinandersetzung bis hin zum „Doktor Faustus“ (1947) eines Thomas Mann, wenig aussagekräftig für die traktierte Sonate selbst: Hier hat Beethoven eben den zweisätzigen Typus grundgelegt, ähnlich wie bei den beiden kleinen Klaviersonaten Opus 49 (Nummer 1: g-Moll/G-Dur// Nummer 2: G-Dur/G-Dur) oder bei den gewichtigen Opera 54 (F-Dur/F-Dur) und 90 (e-Moll/E-Dur). Auch Haydn und Mozart haben zweisätzige Sonaten hinterlassen, ganz zu schweigen von den vielhundert Einsätzigen des Bach-Zeitgenossen Domenico Scarlatti …

Von den gebrochenen Akkorden ohne Melodie im ersten Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier bis hin zur Arietta-Melodie nebst ihren harmonisch und rhythmisch immer ausziselierteren Variationen im letzten Sonatensatz Beethovens ereignet sich ein musikalischer Höhenflug, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht. C-Dur in allen Facetten: daraus ergibt sich alles weitere. Zwischen Bach und Beethoven.

Das verlangt mehr, bis nahe an den Punkt, den Bogen zu überspannen. Klingt dann ein „neues C-Dur“ auf, etwa in Beethovens Diabelli-Variationen, in Franz Schuberts Wandererfantasie, gar in Robert Schumanns Toccata und Fantasie? Von 22 ab geht die Geschichte jedenfalls weiter: Und die Dominante von C ist immer noch G! Danach kommt noch was. Wie 1722 und 1822 geschehen, so lässt sich das für unser 2022 vielleicht ja doch auch hoffen. Zweiundzwanzig perfekte Partizipien schlage ich hier vor zur Beschreibung von Entstehung, Umgang und/oder Aneignung musikalischer Werke, ganz unverbindlich:

22G gesetzt – gespielt – gehört – gekonnt – geübt – genossen – gefühlt – gelesen – gemocht – gelobt – geschrieben – gedruckt – gesungen – gelungen – geschaffen – gelernt – geplant – gebaut – geklärt – gelehrt – gerühmt – geschafft plus gerngehabt … 🙂

Biblische Ausmaße – und damit sei geschlossen, wie oben begonnen! – kommen mit Hans von Bülow (1830-1894) ins Spiel: Der Pianist und Dirigent hat Bachs gesamtes Wohltemperiertes Klavier und sämtliche 32 Klaviersonaten Beethovens in diesen erstaunlichen Zusammenhang gebracht: „Das wohltemperirte Clavier ist das alte Testament, die Beethoven’schen Sonaten das neue, an beide müssen wir glauben.“

So ultimativ ausgerüstet wünsche ich allseits ein klangvolles Jahr 2022!

Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

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Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

Musik der Freiheit

Beethoven – weitaus mehr als nur der Name eines der ganz großen Komponisten inmitten einer stattlichen Anzahl anderer Musiker, die der Tonkunst unseres christlichen Abendlandes ihre Prägung verliehen haben! Beethoven steht für ein Lebensgefühl, das sich an schöpferischer Freiheit von nichts und niemandem überbieten lässt. Darin hat er, vor bald zweihundertfünfzig Jahren, am 16. Dezember 1770 in Bonn am Rhein geboren, in seiner Person „Ludwig van“ sowie in seinem Werk vielen anderen aus seiner Zunft etliches voraus. Und darin ist er all jenen, die ein kreatives Freiheitsverständnis verfechten, zu einem eindrücklichen Vorbild geworden.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) gehört einer Generation an, die überall auf eigene Faust neue Welten ausmachen, entdecken, erobern muss. Einige Beispiele: Wilhelm von Humboldt (1767-1835), zusammen mit seinem Bruder Alexander Namensgeber eines bis heute wirksamen Bildungsideals, versucht, hinter den vielen Sprachen der Menschheit die eine Ursprache zu entdecken. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) betont die Bedeutung der Religion für das gesamte Menschsein als „Ahnung des Unendlichen“. Napoleon Bonaparte (1769-1821) zertrümmert die alte europäische Ordnung durch militärische Gewalt im Nachgang und Ausfluss der Französischen Revolution und bringt so deren Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu Weltgeltung. Alexander von Humboldt (1769-1859) reist als Naturforscher in französischen Diensten durch Mittel- und Südamerika und wird als Vorbild einer quasi international gewordenen Wissenschaft geehrt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreiert mit seiner dialektischen Philosophie des Weltgeistes ein in sich geschlossenes universales Denksystem. Friedrich Hölderlin (1770-1843) entwickelt in seinen Gedichten einen in sich schlüssigen, hermetischen sprachlichen Kosmos. Friedrich von Hardenberg (1772-1801), bekannt unter seinem Künstlernamen „Novalis“, redet einer mystisch-religiösen Weltschau das Wort.

Im Überblick dieser exemplarisch angeführten Persönlichkeiten zeigt sich ein Zug ins Große und Ganze. Man verabschiedet sich zumindest innerlich sowohl vom traditionellen Kirchenglauben beiderlei Konfession als auch vom Vertrauen in die Institutionen des Ancien Régime. Alles Schöpferische und alles Zerstörerische muss aus sich selbst heraus erwachsen. Die Kunst wird, gleich der Wissenschaft und Politik, in dem Sinne autonom, als sie sich ihre Grundlagen in der jeweils befähigten Einzelperson selbst zu bilden hat. In ihren bedeutendsten Exponenten, zu denen der geborene kurkölnische Bürger und getaufte Katholik Beethoven zweifellos zählt, haben wir es mit subjektiv-voraussetzungslos urtümlicher Phantasie bei gleichzeitig objektiv-meisterhaft traditionsgeschulter Kunstfertigkeit zu tun. Alles zielt auf das Menschsein an sich, in weltbürgerlich-aufklärerischer Absicht oder in individuell-romantischem Anspruch.

Beethoven, der jugendliche Organist und Bratschist am in Bonn ansässigen Hof des kurkölnischen Fürstbischofs, wächst in der geistigen Welt des aufgeklärten Absolutismus auf. Er nutzt die dort gewährte Freiheit, sich einem revolutionär gesinnten Lesezirkel anzuschließen. Zugleich ermöglicht man dem Wunderkind, in allen Bereichen der Musik sich weiterzubilden. „Empfindsamkeit“ und „Mannheimer Schule“ sowie deren „Rakete“ prägen die entsprechende Ausbildung. Christian Gottlob Neefe (1748-1798) unterrichtet seinen begabten Schüler im „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Als Joseph Haydn (1732-1809) von seiner ersten Englandreise zurückkehrt und in Bonn Station macht, stellt man ihm den Einundzwanzigjährigen vor. Aus dieser Begegnung ergibt sich die staatliche Bewilligung eines Stipendiums für die Musikmetropole Wien. So zieht Beethoven im Jahre 1792 auf Geheiß seines Landesherrn Maximilian Franz – eines Bruders der Kaiser Joseph II. und Leopold II. sowie der französischen Königin Marie Antoinette (allesamt Kinder des römisch-deutschen Kaisers Franz I. und seiner Gemahlin, der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia) – in die kaiserlich-erzherzogliche Residenz an der Donau. Im „Reisesegen“ schreibt Graf Waldstein, Mitglied der Bonner Lesegesellschaft und später Widmungsträger der Klaviersonate C-Dur Opus 53 (1804), Beethoven werde, so er fleißig arbeite, „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalten.

Bereits 1787 ist Beethoven kurz in Wien gewesen, um bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Stunden zu nehmen. Nun, fünf Jahre später, sind Haydn, der Kontrapunktdozent Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809) sowie der Chef der italienischen Oper, Antonio Salieri (1750-1825) seine wichtigsten Lehrer. Beethovens erhaltene Übungen im „strengen Satz“ zeigen den Hintergrund für das, was der Student etwa ab seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in erstaunlich phantasievoller Eigenproduktion mit genauer Kenntnis der Tradition in unbändigem Freiheitsdrang durchzuarbeiten und so zu überwinden trachtet. Dabei steht er seit 1794 mittellos da, weil die französischen Revolutionstruppen sich um den aufklärerischen Geist in der Bonner Residenz nicht geschert und das kurkölnische Territorium kurzerhand erobert haben. Die staatliche pekuniäre Unterstützung aus der Heimat bricht dem Dreiundzwanzigjährigen also weg.

Beethoven wird in Wien zunächst und vor allem als ausgezeichneter Pianist bekannt und entsprechend gefeiert. In Konzertveranstaltungen spielt er auf dem Klavier eigene Werke sowie seine weithin bewunderten ad-hoc-Fantasien, die ihm unter den Zuhörern den Titel eines „zweiten Mozart“ bescheren. Beethoven formuliert bereits in seinen ersten drei Wiener Klaviersonaten Opus 2 (komponiert im Jahre 1795) einen intellektuellen Anspruch, den er in den folgenden Werken immer weiter und entschiedener ausbaut, so in der „Pathétique“ Opus 13 (1799), in der „Mondscheinsonate“ Opus 27 Nr. 2 (1800) oder in der „Appassionata“ Opus 57 (1805). In all diesen Werken führt Beethoven die Gattung der Klaviersonate in vollkommener Kenntnis und Anwendung der Tradition endgültig aus dem Genre gehobener Unterhaltungsmusik hinaus in eine von ihren meisterhaften Vorgängern Johann Christian Bach (1735-1782), Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart nie für möglich gehaltene freiheitsbetonte Bekenntnismusik einer völlig unabhängigen Künstlerseele.

Wie wenig Beethoven dabei auf äußere Etikette achtet, zeigt sein distanziertes Verhältnis zu seinem einstigen Lehrer: Überliefert ist ein – übrigens beide Seiten verstörender – kurzer Wortwechsel im Jahre 1801, als Beethovens „Geschöpfe des Prometheus“ Opus 43 uraufgeführt werden und Haydn gegenüber dem Schöpfer dieser Ballettmusik meint, sie mit seiner eigenen „Schöpfung“ vergleichen zu sollen. Und schon fünf Jahre zuvor ist es zu einer Verstimmung beim fast vier Jahrzehnte Älteren gekommen, weil, statt in tiefer Dankbarkeit und Demut dem erhabenen väterlichen Freund und umsichtigen Lehrer seine drei Sonaten Opus 2 zu dedizieren, Beethoven lapidar formuliert hat: „Joseph Haydn gewidmet“.

Ein bedeutendes Zeugnis für Beethovens stetige eigenständige Weiterentwicklung musikalischer Sprache ist auf dem Gebiet der Orchestermusik die Dritte Symphonie in Es-Dur Opus 55 (1804), die sogenannte „Eroica“. Sie markiert, biographisch gesehen, das Ende von Hoffnungen, in Paris eine Stellung im dortigen Musikleben anzutreten. Zusagen auf lebenslange Renten durch österreichische Mäzene aus dem Hochadel lassen den überzeugten Republikaner Beethoven die Widmung seines Werkes an Napoleon leichter auslöschen, nachdem der sich zum Kaiser hat ausrufen lassen. In der „Dritten“ beschreitet der Komponist völlig neue Bahnen, indem er die thematische und motivische Arbeit in einen stark vergrößerten Klangraum stellt und so die Gesamtdimensionen der sinfonischen Form beträchtlich erweitert. Fortan regieren das musikalische Geschehen markante Melodien oder prägnante Signale, während schmückendes Beiwerk entweder zurückweicht oder dem jeweiligen Grundgedanken eines Werkes untergeordnet wird. Besonders radikal hat Beethoven dies im ersten Satz seiner Fünften Symphonie c-Moll Opus 67 (1808), von der Nachwelt „Schicksalssinfonie“ betitelt, durchgeführt. In der zeitgleich entstandenen Sechsten Symphonie F-Dur Opus 68, der sogenannten „Pastorale“, lässt sich Beethoven, bei mitunter ähnlicher Motivik, von der von ihm so geliebten Natur leiten, weswegen die strenge musikalische Faktur auch dieses Werkes beim Hören weniger auffällt.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts komponiert Beethoven neben Sinfonien und Sonaten auch reichlich für sämtliche Sparten des musikalischen Lebens, insbesondere Streichquartette und andere Kammermusik mit unterschiedlicher Besetzung, Lieder (unter anderem auf Psalmnachdichtungen des lutherischen Dichters Gellert, z.B. „Die Himmel rühmen“), Konzerte (besonders die für Klavier und Orchester) und Chorwerke. 1803 wird sein Oratorium „Christus am Ölberge“ Opus 85 uraufgeführt, eine Passionsmusik mit der Fokussierung auf die ins allgemein Menschliche gewendete Szene im Garten Gethsemane. Schwer tut Beethoven sich mit seiner Oper „Leonore“ (1805), die erst nach gründlichen Umarbeitungen und unter dem Namen „Fidelio“ Opus 72 (1806/14) das Thema der Befreiung aus dunklem Kerker zur existienziellen Grunderfahrung der Zeitepoche erhebt. Unter den Bühnenmusiken sind die Ouvertüren zu Goethes Schauspiel „Egmont“ und die zur Shakespeare-Adaption „Coriolan“ bis heute bekannt geblieben. Letztere führt die motivische Arbeit bis zur völligen Auflösung durch. Gleichfalls im Jahre 1807 erscheint die C-Dur-Messe Opus 86, eine Vorstufe zur großangelegten und jeden liturgischen Rahmen sprengenden Missa Solemnis (1819/23).

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Bemerkenswert sind Werke, die gattungsübergreifendes Potenzial in sich tragen: Die Chorfantasie c-Moll Opus 80 (1808) beginnt als Klavierkonzert und endet in einem Chorsatz, der motivisch-melodisch schon auf das Finale der Neunten Symphonie vorausweist. Das Violinkonzert D-Dur Opus 61 arbeitet Beethoven später zu einem Klavierkonzert um. Die frühe Klaviersonate E-Dur Opus 14 Nr. 1 (1799) ist vom Komponisten selbst transkribiert worden in ein Streichquartett F-Dur. Andersherum nehmen viele Sätze in den insgesamt 32 Klaviersonaten Klangstrukturen auf, die den Kirchenmusiker an vierstimmige Choräle erinnern mögen, bei Beethoven aber von der Beschäftigung mit Gattungsmerkmalen des Streichquartetts herrühren.

Ein durch mehrere Gattungen wanderndes Thema ist als Grundlage der sogenannten „Prometheus-Variationen“ Opus 35 berühmt: Es existiert als Klavierwerk, als besagte Ballettmusik und als Sinfoniesatz am Schluss der „Eroica“. Beethoven verändert die sich über einem Bass Stück um Stück heranbildende Musik von Mal zu Mal. So legt er in jedem Fall einen Schaffensprozess offen, gewissermaßen die Modellierungen des Schöpfers an seinen Geschöpfen, in gestalterischer Freiheit doch stets auf den Ursprung bezogen und zugleich die spielerische Freude betonend. Hier ist immer auch mit humorvollen Wendungen zu rechnen. Insgesamt nehmen Variationen übrigens einen Großteil in Beethovens Werk ein. Seine erste gedruckte Komposition ist eine Klaviervariationenfolge über einen populären Marsch (1783). Sein letztes großes Klavierwerk sind die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ (1823).

Je mehr sich ein schon seit 1796 bemerkbares Gehörleiden verschärft, desto stärker wird bei Beethoven die geistige Durchdringung sämtlichen musikalischen Ausdrucks. Kann er wegen seiner Schwerhörigkeit immer seltener öffentlich auftreten und fühlt er sich gesellschaftlich mehr und mehr ins Abseits gedrängt (Heiligenstädter Testament; Brief an die „unsterbliche Geliebte“), so arbeitet er konsequent an seinem Ruf als erstklassiger Komponist. Den Durchbruch erlangt er damit allerdings nicht; erst im Jahre 1813 vermag er mit dem Auftragswerk einer lärmigen Schlachtensymphonie namens „Wellingtons Sieg“ seine Bekanntheit über die adligen musikinteressierten Kreise hinaus in eine allgemeine Popularität auszuweiten. Auch die Gelegenheitskantate „Der glorreiche Augenblick“ zum Wiener Kongress 1814 gereicht Beethoven zu einem steigenden internationalen Ruhm – angesichts der auf Einladung des österreichischen Kanzlers Metternich in der Donaumetropole sich versammelnden gekrönten und ungekrönten Staats- und Regierungschefs, die eine neue nachnapoleonische europäische Ordnung auszuhandeln sich anschicken.

Ein Jahr zuvor, 1813, ist die Siebte Symphonie A-Dur Opus 92 uraufgeführt worden, später von Richard Wagner (1813-1883) als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet. In ihren Ecksätzen blitzt und brodelt es, man könnte eher von einem Tanz auf dem Vulkan sprechen. Der Wille zur grenzenlosen Freiheit ist angestimmt, doch diese selbst scheint zu taumeln und zu straucheln. So hat Beethoven das Scheitern der revolutionären Freiheitsideale seiner eigenen Jugend eindrücklich auskomponiert. Der Allegretto-Satz der „Siebten“ ist als Trauermarsch in Variationen ebenso berühmt geworden wie der langsame Satz aus der „Eroica“ und der dritte Satz aus der Klaviersonate As-Dur Opus 26. Letzteren hat Beethoven, ebenfalls in der Kongresszeit 1814/15, anlässlich einer Schauspielmusik zum Gedenken an eine in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gefallene preußische Soldatin (!) für Streicher und Bläser instrumentiert.

Beethoven sucht zu den herrschenden Gesellschaftsschichten immer ein angemessenes Verhältnis einzunehmen. Seine Klavierstunden öffnen ihm die Türen. Viele seiner Schülerinnen und Schüler entstammen dem österreichischen Hochadel. Mit den musikalisch und insbesondere pianistisch versierten Erzherzögen Johann und Rudolph pflegt er fachlich-freundschaftlichen Umgang und hat dadurch direkten Zugang zu den habsburgischen Regenten in der Wiener Hofburg. In den Klaviersonaten d-Moll Opus 31 Nr. 2 („Sturm“, 1802) und Es-Dur Opus 81a („Les Adieux“, 1810) klingt von diesen persönlichen Beziehungen etwas nach. Vor diesem Hintergrund ist das Ereignis beim Spaziergang Beethovens mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) im Jahre 1812 im böhmischen Kurbad Teplitz weniger dramatisch zu sehen als gemeinhin vermutet. Als die beiden auf Mitglieder der kaiserlichen Familie treffen, bleibt Goethe auf der Stelle stehen, lüftet seinen Hut und verneigt sich tief; Beethoven hingegen stapft weiter und mitten durch die Szenerie hindurch: Er kennt die hohen Herrschaften ja, und die wiederum kennen ihren Beethoven.

Im Metternichschen Zeitalter, als die Meinungs- und Pressefreiheit wieder massiv eingeschränkt ist, gilt Beethoven als ein Unikum, aber durchaus von ideellem Wert; mit einem solchen weiß sich die feine Gesellschaft gern zu schmücken. Hier liegt der Unterschied zu dem fast eine Generation jüngeren Franz Schubert (1797-1828), der in den nach ihm benannten Lese- und Musizierabenden im Freundeskreis („Schubertiaden“) stets mit Denunziation und Verhaftung rechnen muss. Beethoven hingegen gilt der Polizei als bedauernswerter harmloser Einzelfall mit mächtiger Protektion. Er selber ist von seiner politisch unkorrekten künstlerischen Einzigartigkeit überzeugt: „Beethoven gibt’s nur einen“ und sieht sich allenfalls auf einer Stufe mit Händel, Bach, Gluck, Haydn und Mozart. Von seinen komponierenden und nach wie vor lebenden Zeitgenossen achtet er allein Luigi Cherubini (1760-1842).

In diesem Sinne führt er sein kompositorisches Werk immer konsequenter weiter. 1819, im Jahr der Karlsbader Beschlüsse, beendet Beethoven seine „Große Sonate für das Hammerklavier“ B-Dur Opus 106. Im viersätzigen Ablauf bleibt sie der Tradition ganz treu, doch ihre Dimensionen sprengen jeden bisher gewohnten Rahmen, bis hinein in Abschnitte ohne Taktstriche und in eine ausgedehnte dreistimmige Schlussfuge „mit einigen Freiheiten“, wie die Bemerkung des Autors an deren Beginn tiefstapelnd lautet.

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In dieser Zeit ist es um Beethovens familiäre Verhältnisse schlimm bestellt. Sein 1815 verstorbener Bruder Carl Caspar hat einen Sohn hinterlassen, Karl, um den immer wieder ein alle beteiligten Parteien zermürbender Sorgerechtsstreit zwischen der als leichtlebig verschrieenen Mutter und dem Onkel entbrennt. In den Zeiten, da der Neffe mit Ludwig van Beethoven Umgang hat, versucht der wider Willen – nämlich aus unüberwindlichen Standesunterschieden zu den adeligen Geliebten – unverheiratet Gebliebene, seine an den pädagogischen Konzepten der Aufklärungsepoche geschulten Erziehungsgrundsätze strikt anzuwenden. Aber diese Art von Bildung des jungen Mannes gemäß dessen vermuteten Gaben und Fähigkeiten scheitert gründlich. Nach einem Selbstmordversuch des Zwanzigjährigen 1826 willigt ein als neuer Vormund eingesetzter Freund Beethovens schließlich in Karls Berufswunsch ein: Der Neffe schlägt die Offizierslaufbahn ein. Später erst wird er den Onkel ehren, indem er einem seiner Söhne den Namen „Ludwig“ gibt.

Mit den letzten drei Sonaten (1821/22), den Bagatellen Opus 119 und Opus 126 (1824) sowie den Diabelli-Variationen Opus 120 (1819/23) schließt Beethoven sein Schaffen für das Klavier ab, oft mit freien Assoziationen auf die Musikgeschichte. So erinnert der Tonfall im Variationssatz der E-Dur-Sonate Opus 109 an Georg Friedrich Händel (1685-1759), Beethovens Lieblingskomponist der Vergangenheit. Die As-Dur-Sonate Opus 110 gemahnt im ersten Satz an Mozart, im weiteren Verlauf mit Choral, Rezitativ, Arien und Fugen namentlich an die Johannespassion von J.S. Bach („Es ist vollbracht“). Hat der junge Beethoven bei einer Reise 1796, unter anderem nach Berlin und Leipzig, in der Thomasschule Bachsche Handschriften einsehen können? Die c-Moll-Sonate Opus 111 beginnt wie aus dem Nichts mit einem gezackten Thema und fährt zunächst fort im Nachklang einer barocken Ouvertüre, ehe ein leidenschaftliches, teils fugiertes Laufwerk einsetzt. Die anschließende „Arietta“ in C-Dur ist in der durch sie hervorgerufenen Literatur zu einem Abschiedsgesang verklärt worden. Thomas Mann (1875-1955) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) sehen in ihm das gesamte bürgerliche Zeitalter prophetisch-dialektisch durchschaut und überwunden.

Beethoven vollendet 1823/24 seine beiden Großprojekte, die Missa Solemnis D-Dur Opus 123 und die Neunte Symphonie d-Moll Opus 125. 1824 werden sie in St. Petersburg bzw. in Wien uraufgeführt. Außerdem entsteht in den letzten Lebensjahren eine Reihe von rätselhaften Streichquartetten, deren zerklüftete Sätze und polyphone Passagen an Adornos Wort von einer „Philosophie der Musik“ schlechthin denken lassen. Der Partitur der riesenhaft geratenen Messe stellt Beethoven indes ein völlig undogmatisches Motto voran: „Von Herzen – Möge es wieder zu – Herzen gehen“. – Im Finale der letzten vollendeten Sinfonie klingt eine Mischung aus Hoffnung und Wehmut auf: Indem Beethoven Teile aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ vertont und so ein Gedicht aus der vorrevolutionären Welt (1785) ins Bewusstsein rückt, gibt er seiner eigenen restaurativen Zeit eine persönlich entfaltete Freiheitsliebe mit auf den Weg. Ein zeitgenössischer Kritiker, der die Vermengung von absoluter Instrumentalmusik und Chorgesang für missglückt hält, aber doch den Mut zu dieser Grenzüberschreitung bewundert, schreibt nach einer Aufführung der „Neunten“ über Beethoven und sein Werk: „Auch in der Verirrung – groß!“

Insgesamt lässt sich versuchsweise sagen: Beethovens Gesamtwerk ist Ausdruck eines einzigartigen Personalstils. Der hat sich im Laufe eines ungewöhnlichen Lebens herangebildet aufgrund von früher Förderung durch Freunde und Bekannte, aber verfestigt in den allgemeinen unsicheren kriegerischen Zeitumständen und durch einen starken Charakter im Kampf gegen biographische Schicksalsschläge. Die Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist bei Beethoven einem schöpferischen Einzelwillen unterworfen. Das objektiv gegebene musikalische Material bearbeitet er höchst traditionell und zugleich entschieden subjektiv. Eigentümlich für diesen Vorgang sind dynamische, rhythmische, harmonische, metrische und formale Neuerungen, die es in solchem methodischen Ausmaß vor Beethoven nicht gegeben hat und die man getrost als „revolutionär“ bezeichnen kann.

Nicht durch seine von vielen gesellschaftlichen Abhängigkeiten geprägte soziale Stellung im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts, sondern durch die absolute Beherrschung und alles Abgelebte geistesgegenwärtig überwindende, dabei phantasiegeleitete Fortentwicklung seiner Kunst wird Beethoven zum ersten freien Künstler der europäischen Musikgeschichte. Daran haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte viele weitere Vorstellungen und auch Wunschbilder geheftet. Die vermutete pausenlose energische Selbstbestimmtheit im Dienste allein „der Sache“ hat noch in der rebellischen westdeutschen Jugend der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bleibenden Eindruck hinterlassen. Bücher, Filme und Plakate zeugen von der Beliebtheit des Protagonisten. Diese hängt wohl damit zusammen, dass Beethoven auf seinem ureigenen Boden von klassisch-romantischer Klangrede in seinem Schaffen durch innere Autorität eine allumfassende Welthaltigkeit ausdrückt, die alle Menschen, die sich darauf einlassen, vor verstiegenem Einzelgängertum oder gar exzessivem Ego-Trip schützt, zugleich aber ihnen in dem, was ihr Humanum wesentlich ausmacht, ein starkes Bewusstsein persönlicher Freiheit sichert.

Abbildungen: a) Beethoven gemeinfrei b) Wie man mit dem Hammer philosophiert – Taktlosigkeiten im Finale von Opus 106.

Joseph Haydn unvergessen

Einer genuin christlichen Geisteseshaltung haben die ganz großen Gelehrten und Künstler der europäischen Kultur Ausdruck verliehen. Einer von ihnen starb hochgeehrt und geachtet heute genau vor zweihundertzehn Jahren in Wien, am 31. Mai 1809: Joseph Haydn. Er gilt als Begründer jener Musiktradition, die wir die „Wiener Klassik“ nennen. In Sonaten, Streichquartetten und Symphonien, in Opern, Oratorien und Messen hat er, 1732 im niederösterreichischen Rohrau geboren, wahrhaft geistreiche Musik geschaffen.

Zu seinen persönlichen Freunden zählten Mozart und Beethoven. Seinen Stil fand er unter anderem im Studium der Werke Georg Friedrich Händels und der Söhne Johann Sebastian Bachs. In seinen über tausend Werken vereinigt er einfache Liedformen mit hochkomplizierten Stimmgeflechten: darin fängt er alle Befindlichkeiten des menschlichen Gemüts ein, von tiefer Trauer bis zu heiterer lichter Gelassenheit, von klagendem Schmerz bis zum überschwenglichen Jubel. Zumindest eine Melodie ist uns allen vertraut: Aus einem seiner Streichquartette stammt die Weise zu unserer Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

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Man wird nicht sagen können, dass sich in Haydns Schaffen der Heilige Geist direkt äußert – dazu ist selbst Musik doch letztlich zu sehr irdenes Stückwerk, auch in einem so großartigen Oratorium wie der „Schöpfung“, das die biblische Schöpfungsgeschichte vertont. Aber diese Musik enthält Momente, die vom Zeitgeist heilsam wegführen und dem bösen Ungeist ganz klar wehren, weil Trost darin ist, Kraft, Mut, Ausdauer, Zuversicht und grenzenlose Hoffnung.

Rechte Lehre und befreiende Erinnerung – daraus entsteht ein neuer gewisser Geist, eine gute Ordnung, die nach vorn hin offen ist. Ganz optimistisch setzt Haydn am Anfang seiner „Schöpfung“ folgende Worte in erst dunkle, dann helle leichte Musik: „Nun schwanden vor dem heiligen Strahle / des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten; / der erste Tag entstand. / Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor. / Erstarrt entflieht der Höllengeister Schaar, / in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht. / Verzweiflung, Wuth und Schrecken / begleiten ihren Sturz. / Und eine neue Welt entspringt auf Gottes Wort.“

Kurzweil zum 31. Oktober

Wenn nichts mit nichts zu tun hat, dann hängt alles mit allem zusammen. Kurz Ding braucht Weil. Ein eventuell zukünftiger österreichischer Bundeskanzler hat mit einem womöglich bleibenden niedersächsischen Ministerpräsidenten kaum etwas gemein, doch deren schöne Vornamen Sebastian („der Basti“) und Stephan („WEIL er ehrlich ist“) gehen beide auf christliche Märtyrer zurück, immerhin.

Weil hat angeregt, den Reformationstag nicht nur einmalig dieses Jahr, sondern auch darüber hinaus als landesweiten Feiertag zu begehen. Kurz könnte im Gegenzug zumindest mal versuchen, den Karfreitag bei sich allgemein arbeitsfrei zu machen – auch wenn das in so superkatholischen Ländern wie seiner Alpenrepublik eigentlich unüblich ist.

Wie auch immer, den 31. Oktober haben nicht nur wir Evangelischen gepachtet. Die römische Kirche begeht an diesem Tag das (nicht gebotene) Gedenken des Heiligen Wolfgang, gestorben – das heißt in die Ewigkeit hineingeboren – an ebenjenem irdischen Datum in einem Kloster in Oberösterreich (daher Benennungen wie zum Beispiel „Wolfgangsee“). Er war im zehnten Jahrhundert Bischof von Regensburg und als solcher ein Mitbegründer der dortigen Domspatzen.

Es führt also eine direkte Linie zu den Gebrüdern Ratzinger, die den höchsten Gottesdienst in der Musik erkannten. Georg ist als Kapellmeister in der Reichsstadt an der Donau berühmt geworden; und Joseph hat sich gelegentlich enttäuscht darüber gezeigt, dass Bach ein Lutheraner war – abgesehen einmal vom unmusikalischen Furor, den seine „Regensburger Rede“ verursachte, in die er das islamkritische Zitat eines byzantinischen Kaisers einflocht.

Dem emeritierten römischen Bischof Benedikt XVI. bleibt sein zweiter musikalischer Liebling, und der hatte zu eigenen Lebzeiten als Kind und junger Erwachsener immer dann Namenstag, wenn in Salzburg und in den Habsburger Landen die Dringlichkeiten von zu gewährender konfessioneller Toleranz auf den Plan traten – was erst im Zuge der kaiserlich-josephinischen Reformen anno 1781 etwas entschärft wurde. Am letzten Tag eines jeden zehnten Monats christlichen Kalenders feierte der junge gute Katholik Wolfgang Amadé Mozart den heiliggesprochenen Bischof. Zum siebenten Namenstag schenkte ihm sein Vater Leopold eine eigens zusammengestellte Notensammlung.

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Dieses klavierpädagogische Werk enthält Tänze vieler ungenannter Meister aus dem achtzehnten Jahrhundert, in Suitenform und nach Tonarten geordnet. Nur gelegentlich werden Autoren angegeben, zum Beispiel „Sigr. Bach“ oder „Sigr. Telemann“: Patensohn und Patenonkel aus dem hohen protestantischen Norden sind hier ganz unbekümmert in ihren Stücken vereint mit Tänzen schwäbischer, französischer, englischer, italienischer oder polnischer Herkunft wie „Entrée“, „Bourrée“, „Angloise“, „Bourlesq“, „Polonaise“ oder einfach „Menuet“.

Miniaturen, die ihrer Faktur nach auch schon in Johann Sebastian Bachs „Notenbuch für Anna Magdalena“ hätten stehen können, finden sich in dieser Kollektion. Das „Notenbuch für Wolfgang“ zum 31. Oktober 1762 mag all denjenigen eine echte Alternative sein, die kurzweilig mal keine Lutherbonbons lutschen wollen – und denen es so ergeht wie dem jesuitisch geschulten Heiner Geißler selig, der in diesem laufenden Jubiläumsjahr 2017 die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Christus eher vermisste …, – die aber zugleich voll eingebunden sind in den Reformationstagsvorbereitungstrubel zur würdigen Feier anlässlich der fünfhundertsten Wiederkehr des epochalen Datums.

Österreich und Niedersachsen, Ballhausplatz und Leineschloss, Wien und Hannover liegen zwar weit voneinander entfernt, aber katholische und evangelische Musik haben seit jeher sich gegenseitig befruchtet. Mozart hat später, als freimaurerisch eingebundener Künstler, der sich zugleich für eine Kirchenmusikerstelle am Wiener Stephansdom interessierte, in seiner Zauberflöte sogar die Melodie eines Lutherliedes eingearbeitet und so jene Quadratur des Kreises fertiggebracht, die in den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen hier wie dort im tagespolitischen Ringen erst zuwege gebracht werden soll.

In momentan notwenigerweise verlautbarten Kurzweil-Bekenntnissen hängt eben alles streng in der Mode Getrennte mit allem anderen doch irgendwie zusammen. Wir sind gespannt, was hinausgeht über unsinnige Lautmalereien nach Art jenes Magiers – „Diggi, daggi …“ in theatralisch aufgeblasenem c-Moll – , der den armen titelmitgebenden jungen Mann aus Mozarts frühem Singspiel „Bastien et Bastienne“ hart ängstigt – und überhaupt: ob daraus etwas Vernünftiges werden kann.

Abbildung: Leopold Mozart: Notenbuch für Wolfgang. Clavier. Eine Auswahl der leichtesten Stücke, herausgegeben von Heinz Schüngeler. Edition Schott 3718. B. Schott’s Söhne, Mainz / Schott & Co. Ltd., London / Schott Music Corp., New York. 1939. Unveränderter Nachdruck von ca. 1973.

Stücke zu Samuel

Johann Sebastian Bach kam in Berlin zur Welt und starb, keine dreißig Jahre alt, in Rom. Dort, auf dem protestantischen Friedhof, nahe der Cestiuspyramide, wurde er begraben. Viele Kollegen trauerten um einen jungen Nachwuchskünstler, dessen Zeichnungen und Gemälde eine vielversprechende Zukunft verheißen hatten.

Wer jetzt an P.D.Q. Bach denkt, jenes fake, das es immerhin bis in die seriöse Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ geschafft hat;  oder wem die in großen Teilen frei erfundene Biographie des Wilhelm Friedemann Bach in Albert Emil Brachvogels vielgelesenem Roman aus dem Jahr 1858 in den Sinn kommt: – … liegt schon deshalb falsch, weil der „Hans“ gerufene Johann Sebastian Bach, der sich selber lieber „Samuel“ nannte, eben kein Musiker war, erst recht keiner wider Willen, sondern ein in seiner kurzen Lebensspanne zwischen dem 26. September 1748 und dem 11. September 1778 ungewöhnlich begabter und außerordentlich geförderter Jungstar im Reich der bildenden Kunst – und zwar vor allem in deren damals sehr beliebtem Zweig der Landschaftsmalerei, mit besonders ausgeprägtem Hang zu arkadischen, idyllischen und mythologischen Motiven.

Dieser Johann Sebastian Bach hat also wirklich gelebt und ist – Gott sei’s geklagt – tatsächlich an einer tückischen Krankheit gestorben, unerreichbar fern von den seit 1768 in Hamburg lebenden Eltern, die nur Geld schicken konnten für die Behandlung durch beste Ärzte – und zwischen Hoffen und Bangen schier verzweifelten. Sein Vater Carl Philipp Emanuel Bach schrieb nach dem Tod des jüngsten Sohnes in einem Brief: „Dächten wir nicht als Christen, die sein jetziges Glück wißen: so gäbe ich noch alles jetzt hin um ihn wieder zu haben.“

Erlöst von den Qualen eines nicht näher bekannten Leidens, heimgerufen in den hellen Himmel, dessen Schönheiten er idealiter so gern vermittels der erlernten Kunst in irdische Sinnlichkeit formte, eingefangen mit mediterranem Blick – und die er auch persönlich vorstellte im Wesen unerschütterlicher freundlicher Heiterkeit: Es ist, als ob in seinen Bildern etwas durchklingt von den Kantaten des Großvaters, der Musik schuf zu Texten wie: „Freue dich, erlöste Schar“ …

Was bringt mir das?

Noch ist Gelegenheit, mit dem Lesen dieses Beitrags aufzuhören. Er scheint ja so gar nichts Zeitgemäßes oder Aktuelles an sich zu haben … Wer sich indes für jene heutzutage in aller Munde geführten Rede von unseren gesellschaftlichen „Werten“ halbwegs interessiert, indem er zunächst ohne verzweckte Intention fragt: Welchen Inhalts sind die denn eigentlich? -: … kommt um die Kenntnisnahme von so zahlreich wie nur irgend möglich angeführten exempla aus dem mannigfaltig künstlerisch-kulturellen Leben unseres christlichen Abendlandes schlechterdings nicht herum. Ich bringe hier und heute, mit längerem Anlauf, nur ein einziges Beispiel.

Unmittelbarer Anlass für diese Zeilen war die unumgängliche Wiederkehr des Jahrestages von Nine-eleven. Ein wenig ist über die Fixierung auf die massenmörderischen Geschehnisse von vor fünfzehn Jahren in Vergessenheit geraten, dass es auch vor dem annus horribilis 2001 einmal jährlich einen elften September gab. Hält man sich hier vorrangig (ja, so eingetrübt sind seitdem auch rückwirkend alle anderen Tage seines Vorkommens:) an traurige Ereignisse, die mit diesem Datum verbunden sind, dann ist der Schock des 11. September 1778 für die Familie Bach wie auch für die gesamte künstlerische Welt des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt nicht hoch genug einzuschätzen.

„Samuel“ war unter anderem insofern ein echter Bach, als er keine halben Sachen machte. Der Vater, die vielen komponierenden Onkel und Großonkel, davon abgestammt dann Heerscharen an künstlerisch tätigen Cousins und Großcousins, auch schon Neffen und Großneffen, besonders natürlich der meisterhafte Großvater nebst dessen Vorfahren, dazu alle möglichen angeheirateten Familienmitglieder, die auch im weitesten Sinne musisch sich betätigten … – sie bildeten in ihrer Gesamtheit eine regelrechte Künstlerdynastie, deren einzelne Glieder eigenständig, bisweilen eigensinnig, auf jeden Fall meistens beispiellos souverän agierten, in welcher beruflichen Stellung sie sich auch befanden.

Sie beherrschten ihr métier, und allein ihre unbestreitbaren Kunstfertigkeiten ließen sie, trotz allem Ärger im Alltag, groß und anerkannt sein. Durch den bloßen Umstand, dass sie einfach da waren und man nicht ohne weiteres an ihnen vorbeikam, riefen sie auch notorische Neider und Ignoranten auf den Plan; doch konnte das diesen geradlinigen Typen, auf ihre Kunst gesehen, nichts anhaben. Sie blieben, komme, was da wolle, bei der Anwendung ihrer Gaben und Fähigkeiten, und sauer wurden sie nur, wenn etwas mit der Vergütung nicht stimmte. Dann allerdings setzten sie sich hin und schrieben Briefe.

Johann Samuel Bach starb zu früh, als dass er sich mit unverständigen Arbeitgebern hätte herumplagen müssen. Es bleibt die in der Forschung gern gestellte, naturgemäß letztlich unbeantwortbare Frage, wie er sich als Künstler weiterentwickelt hätte … – Nun, er wäre, nimmt man seine von Zeitgenossen gerühmten Baumgruppen als Ausgangspunkt, vielleicht ein stetig in seinem Bereich fortschreitender und selbständig seine landschaftsentwerfenden Werke durchdenkender Meister geworden, die karrierefördernden Gelegenheiten des Lebens beim Schopfe packend, beseelt von einem ebenso bodenständigen wie phantasiegezeugten Ideal, das ihn getragen hätte auch durch persönliche, pekuniäre und politische Krisen hindurch –  den locus amoenus, den „lieblichen Ort“ immer vor dem inneren Auge.

Gestalterischer Wille auf dem Gebiet, das ich gut überblicke; wo ich mich einigermaßen auskenne: So motiviert wünschte ich mir die heutige Welt im nörgelig gewordenen Europa. Großzügig und realistisch zugleich, weder zu sehr nach „links“ noch nach „rechts“ abdriftend, völlig frei von jeglichem fundamentalistischen Eifer, dabei durchaus gottesfürchtig im besten Sinne des Wortes. Übrigens ist der Jungverstorbene bis zuletzt dem ererbten Glauben seiner Taufe und Konfirmation treu geblieben: Er wurde in nächtlicher Dunkelheit beerdigt, weil es im damaligen päpstlichen Rom keinen tageslichttauglichen evangelischen Ritus geben durfte.

Bleiben bei dem, woher man kommt. Fähigkeiten entwickeln aufgrund der Gaben, die einem mitgegeben sind. Sich nicht abbringen lassen von dem, was das eigene Leben so offenkundig bestimmt. Allerweltsparolen meiden. Und bei alledem ein fröhliches dankbares Gemüt bewahren. Der einzige in Italien begrabene Bach scheint das alles, trotz Krankheiten immerfort und allerorten, zeit seines kurzen Lebens beherzigt zu haben. Aber sehen wir nun im einzelnen, anhebend mit dem ungleich bekannteren gleichnamigen Großvater – ohne nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Mehr als Stücke zu diesem eigentümlichen „Samuel“ sind es nicht …

Künstlerische Mehrsprachigkeit

Johann Sebastian Bach, geboren am 21. März 1685 in Eisenach, gestorben am 28. Juli 1750 in Leipzig, ist ja seit jeher, wie übrigens auch sein zweitgeborener Sohn Carl Philipp Emanuel, geboren am 8. März 1714 in Weimar, gestorben am 14. Dezember 1788 in Hamburg, ein dankbarer Fall für die Kalligraphologen unter uns: Wer ihre faksimilierten Briefe aus der einschlägigen Literatur kennt oder die Handschriften der Partituren vor Augen hat – diese aus sich selbst heraus so ausdrucksstarken und darum jedem Lesenden tief eindrücklichen Zeugnisse kräftiger Musik – , kann zur Not in Noten bleiben: beim Betrachten – und bedarf keines Hörens mehr. Er weiß bereits, dass hier Außerordentliches geschieht.

Hans Samuel Bach, dem die schwungvollen, gleichwohl energischen Punkte, Notenköpfe, Schlüssel, Striche, Fähnchen, Bögen, Bindungen und Ligaturen des Großvaters und Vaters in seiner eigenen eindrucksvollen Handschrift zu noch runderen und gleichmäßigeren Zügen gerieten, hat sich in anderer Weise zueigen gemacht, was an charakterlicher Überlieferung aus dem Geist der Musik ihm unweigerlich in die Wiege gelegt war. Anregend dürfte dabei auch die väterliche Sammlung von Portraitbildern berühmter Zeitgenossen gewirkt haben. Emanuel hat später, als er die Genehmigung erteilt hatte zum aus seiner Sicht doch recht ungewöhnlichen beruflichen Weg des Sohnes, dessen Fähigkeiten eingespannt zu Kopieraufträgen: Was er an Musikerbildnissen nicht käuflich erwerben konnte, malte ihm Sohnemann einfach ab.

Wir bezeichnen ihn als Johann Sebastian Bach d.J., auch J.S.B. junior oder JSB II. Doch im Unterschied etwa zu den Familien Holbein, Cranach oder Dumas, wo es Hans, Lucas beziehungsweise Alexandre gleichnamig als Vater: „den Älteren“ – und  Sohn: „den Jüngeren“ – gibt, ist hier eine Generation übersprungen und eben das künstlerische Metier gewechselt, äußerlich von ferne halbwegs vergleichbar mit Großvater und Enkel Christian Morgenstern, zwischen denen beiden sich die Landschaftsmaler(!)-Familientradition zur Allround-Artistik wandelt … Das Werk des jüngeren JSB ist dementsprechend cum grano salis die Fortsetzung von bukolischen Arien wie „Schafe können sicher weiden“ mit anderen Mitteln.

Der Großvater hätte durchaus Lust gehabt, viel mehr „Weltliches“ zu komponieren, als ihm das nach seinen glücklichen Jahren am Hof zu Köthen dann in Leipzig möglich war. Er fuhr ja gern mit seinen ältesten Söhnen Friedemann und Emanuel nach Dresden, um dortige Opernaufführungen zu genießen. Welch anregende Abwechslung von den drei Leipziger Dienstgebern Kirche, Kommune und Kaffeehaus!

Italien war dort mit Händen zu greifen; die Stadtansichten eines Canaletto d.J. (d.Ä. war ein Onkel) führen es uns bis heute vor Augen: jenes helle Wunderland, Ursprung der Oper, Hort von Musikhauptstädten wie Venedig mit Antonio Vivaldi oder Neapel mit Alessandro und Domenico Scarlatti (Vater & Sohn) – im Elbflorenz war es optisch und akustisch, architektonisch und musikalisch, politisch und konfessionell ebenso handfest wie vergeistigt: omnipräsent! Dresden wurde später denn auch einer der Studienorte des dritten Sprosses von Emanuel beziehungsweise des gleichnamigen Kindeskindes von Opa Sebastian.

Sein selbstgewählter „Samuel“ ist, wenn nicht vielleicht gar prophetisch von Belang, so doch zumindest ein raffiniertes Akronym, gebildet ausnahmslos aus Buchstaben von Vaters und Großvaters Rufnamen. Auf der realen Ebene spielt der in Meiningen tätige Zweig der Familie eine Rolle, wo es unter anderem einen Bach namens Samuel Anton (1713-1781) gab, der zugleich Hoforganist und Maler war. Eine persönliche Bekanntschaft mit Emanuel rührt daher, dass er, fast gleichaltriger Vetter soundsovielten Grades, bei seinem „Onkel“  JSB I in Leipzig Orgelunterricht erhalten hatte. Er dürfte also auch später in Berlin und Hamburg Gegenstand von Gesprächen gewesen sein.

Das so typisch Bachsche Kombinationsgeschick zeigt sich dann bei JSB II also einmal mehr – vielperspektivisch und hintergründig, technisch makellos und zugleich gemütvoll warmherzig, künstlerisch-menschlich in immer wieder verblüffender bodenständiger und zugleich entrückter Einheit: Augenmusik und Ohrenschmaus verschmelzen da auf wundersame Weise.

In vielen seiner Sonntagskantaten sowie in den Passionsmusiken hat JSB I, teilweise zum Schrecken der Leipziger städtischen Hautevolée, hochdramatische Töne angeschlagen. Und andererseits ist etwa in der Einleitung der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums die Hirtenidylle in ihrem ganzen sehnenden Frieden so bildhaft vertont, dass dieses Instrumentalstück zu einem Inbegriff der Gattung „Pastorale“ werden konnte. Immer wieder Ausbrüche aus der vertraglich abgesteckten Welt der Erfordernisse und Erwartungen, mal heftig, mal ruhig – und meistens angeregt durch die neuesten musikalischen Entwicklungen südlich der Alpen …

Beim zeichnenden und malenden Enkel scheinen die Emotionen auf den ersten Blick zurückgenommen, alles ist im Geist von rokokovermeidender Empfindsamkeit und antikenbegeistertem Frühklassizismus ebenso leuchtend wie ausgeruht durchgestaltet. Eine früh gereifte Virtuosität wird erkennbar, die dem Sohn des „Berliner“ und später „Hamburger Bach“ gewiss, wie einst Georg Friedrich Händel (1685-1759), einen ehrenvollen Zutritt in die stadtrömische „Schäferakademie“ verschafft hätte – wenn, ja wenn er nicht im zarten Pergolesi-Alter den irdischen Eindrücken gepflegter Honoratioren bei gastfreien Abendgesellschaften und Ateliergesprächen so grausam endgültig entschwunden wäre.

„… nach Italiaenischen Gusto“

Italien im Leben der Familie Bach – das ist ein eigenes Kapitel. JSB I hat das Land, dessen Sprache bis zum heutigen Tag als musikalische lingua franca fungiert, nie gesehen. Von klein auf aber hat sich sein wacher Intellekt für italienische, also für die damals modernste Musik interessiert, um sie in Bearbeitungen und Eigenschöpfungen weiterzugeben. Insbesondere nahm er sich der Werke von Antonio Vivaldi (1678-1741) und Tomaso Albinoni (1671-1751) an, richtete sie für Orgel oder Klavier oder Instrumentalensembles ein – oder verwendete ihre Themen für eigene Fugen.

Auch Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) wurde eingemeindet, in einer Kantate, wo er dem Stabat Mater des frühverstorbenen Neapolitaners einen anderen (deutschen) Text unterlegte („Tilge, Höchster, meine Sünden“) und es so in Leipzig bekanntmachte. Auch gibt es da dieses Concerto nach Italiaenischen [sic!] Gusto, aus dem Zweiten Teil der Clavierübung von 1735, das vor Freude überströmt und ebenso in Untiefen schwelgt – eine Aneignung fortschrittlichster Kunst ersten Ranges.

Im selben Jahr, da das Italienische Konzert gedruckt erschien, wurde seinem Schöpfer der jüngste Sohn geboren, Johann Christian. Nach dem Tod des Vaters, 1750, kam der Fünfzehnjährige in die Obhut seines Halbbruders Emanuel nach Berlin. Man nennt ihn auch den „Mailänder Bach“, weil er im Alter von zwanzig Jahren nach Italien zog und somit auch seinem damals siebenjährigen Neffen JSB II für immer Lebewohl sagte.

In Bologna wurde er vom später auch den jungen Mozart so prägenden musikbeflissenen Padre Martini unter die Fittiche genommen und zum Kirchenkomponisten nach ortsüblicher Manier (sprich: italienischem Gusto) ausgebildet. Dafür nahm er sogar in Kauf, römisch-katholisch zu werden, was ihm vom Rest der Familie schwer verübelt, nämlich als Verrat am Stammvater angekreidet wurde. Veit Bach (um 1550-1619) war einst als protestantischer Glaubensflüchtling von Ungarn nach Thüringen gekommen … – und so ein ungezügelter Nachfahr wurde Organist am Mailänder Dom!

Dieser dem Luthertum abspenstig gemachte Bach entdeckte seine wahre Liebe nun in der Beschäftigung mit jenen „schönen Dresdener Liederchen“, von denen sein Vater immer geschwärmt hatte: Er reüssierte in der Opernwelt, vor allem in Neapel. Von dort verbreitete sich frohe Kunde über ihn bis an die Italienische Oper in London, so dass 1762 diesem Mann von Welt ein drittes Land zur Heimat wurde, das Vereinigte Königreich.

Der einzige Bruder, der den Kontakt zum Konvertierten aufrechterhielt, war Johann Christoph Friedrich, der sogenannte „Bückeburger Bach“ (1732-1795): Er, vielleicht der  Bodenständigste aus der vierköpfigen Musikermännerriege unter den insgesamt zehn erwachsen gewordenen Kindern des Thomaskantors, hat, zusammen mit seinem Sohn Wilhelm Friedrich Ernst (1759-1845), also einem direkten (Halb-)Cousin Johann Sebastians d.J., den „Englischen Bach“ Anfang des schicksalhaften Jahres 1778 für drei Monate auf der Insel besucht.

Im London der 1760er Jahre tat Johann Christian sich mit einem Musiker namens Abel zusammen, dessen Vater in Köthen gemeinsam mit JSB I in der Hofkapelle gewirkt hatte. Die beiden Söhne gründeten ein Konzertunternehmen sowie eine Männer-WG, die solange bestand, bis Christian des Kompagnons Geliebte heiratete, eine reiche italienische Sängerin – was aber nicht daran hinderte, dass das intime Verhältnis der beiden vormals Liierten weiterlief, nur jetzt ergänzt um finanzielle Vorteile auch für Bach.

Diese mitzunehmen war wohl bitter nötig: Indes half alles nichts, die immer weniger besuchten „Bach-Abel-Konzerte“ trieben alle Beteiligten in den Bankrott, und zu den Folgen getreu dem „Brauch von Alters her: / Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ gesellten sich Krankheiten, die zum Tod (1782) des jüngsten Bachsohnes mit noch nicht einmal 47 Jahren führten. Man begrub ihn auf einem katholischen Friedhof in englischer Provinz.

Die Königin höchstpersönlich übernahm ausstehende Schulden ihres verstorbenen Klavierlehrers, so dass dessen Witwe nach Italien zurückkehren konnte – in jenes Land, das dem Verblichenen kompositorische Fähigkeiten erweckt hatte, mit denen er die gesamteuropäische musikalische Sprache bis heute hin prägt. Das „singende Allegro“ hat er sozusagen erfunden; eine heitere, zupackende, leichte, optimistische Art ist vielen seiner Stücke eigen. Die Anfänge des Sinfonikers Mozart (1756-1791) sind ohne ihn, der als „Londoner Bach“ mit dem achtjährigen Wolfgang Amadé gemeinsam Klavier spielte, undenkbar.

Erfahrungen und Erwägungen

„Onkel Christian ist jetzt in Italien“ – das ließ die Phantasie des kleinen JSB II vermutlich kaum unangeregt. Vater Carl Philipp Emanuel, Hofcembalist Friedrichs des Großen, hatte seinerzeit alte Beziehungen zu einer befreundeten Adelsfamilie aufgefrischt, um den ungestümen Halbbruder nach Milano zu vermitteln. Dass es auch den eigenen Sohn in südliche Gefilde ziehen könnte, legte sich nahe, als die zeichnerische Begabung des Jungen überdeutlich hervortrat.

Das war spätestens mit der Übersiedlung von Berlin nach Hamburg der Fall, wo Emanuel Bach das Amt seines verstorbenen Paten Georg Philipp Telemann (1681-1767) als Kantor am Johanneum und städtischer Musikdirektor aller fünf Hauptkirchen übernahm. Was JSB I in Leipzig gewesen war, wurde dessen Zweitgeborener nun, 1768, an Elbe und Alster. Dort entfaltete er in seinem Haus ein reges hanseatisch feines gesellschaftliches Leben, zu dem auch die Präsentation seiner Gemäldesammlung gehörte. JSB II, schon in der Ausbildung, blieb in Berlin und ging 1770 in die Stadt an der Pleiße, wo sein Großvater als Director musices amtiert hatte.

Vier Tanten, Schwestern seines Vaters, lebten in Leipzig in einer Frauen-WG zusammen: Die verwitwete Elisabeth Juliana Friederica Altnickol (1726-1781), außerdem die unverheiratet gebliebenen Bachtöchter Catharina Dorothea (1708-1774), Johanna Carolina (1737-1781) und Regina Susanna (1742-1809). Eine Biographin heutiger Zeit schreibt dazu: „Inwieweit der junge Student allerdings Interesse am Kontakt mit seinen ‚alten Tanten‘ hatte, bleibt fraglich.“

Übrigens hat das jüngste Bachkind später Empörung unter der komponierenden Männerwelt ausgelöst. Als nämlich bekanntwurde, dass Regina Susanna, die letzte noch lebende Tochter des großen Johann Sebastian Bach, von Altersarmut betroffen war, initiierten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Ludwig van Beethoven und andere mitfühlende Musiker eine deutschlandweite Spendenaktion.

Zurück zu Emanuel und seinem Nachwuchs: Der Berlin-Hamburger Bach hat in bezug auf seinen Sohn ganz offenkundig viel Erfahrungsweisheit walten lassen. Am Bruder Wilhelm Friedemann (1710-1784), dem „Hallischen Bach“, sah er, wohin väterlicher Ehrgeiz führen konnte. In allerbester Absicht hatte JSB I seinen Ältesten gefördert, gefordert – und überfordert. Friedemann hielt sich auf keiner Organistenstelle lange, nachdem er sein Amt an der Sophienkirche zu Halle an der Saale verlassen hatte. Sein hochfahrendes Wesen bot ständig Anlass zu Streitereien und Zerwürfnissen. Zuletzt war er freischaffender Künstler in Braunschweig und Berlin, gerühmt als bester Orgelspieler weit und breit, aber immer knapp bei Kasse, stets auf der Kippe ins soziale Elend. Brachvogel bezieht aus diesem Sachverhalt seinen romantisierenden plot. – Solch Mitgift wollte Emanuel den eigenen drei Kindern ersparen; Berufsmusiker übrigens wurde keines von ihnen.

Anderes kam hinzu: JSB I, mit zehn Jahren bereits Vollwaise geworden, litt zeit seines Lebens darunter, niemals ein Hochschulstudium absolviert zu haben. Nach äußerlich abfragbarem Bildungsstand ist er immer nur ein „Musikant“, also ein Handwerker geblieben, auch wenn er ja später in Leipzig unter anderem für das musikalische Leben an der Universität zuständig war. Die Söhne sollten es besser haben. Neben der Trauer um seine in Köthen verstorbene erste Frau Maria Barbara und dem Wunsch nach einem veränderten Umfeld für seine zweite Ehe mit Anna Magdalena spielte bei der Bewerbung um das Thomaskantorat auch die Zukunft seiner Ältesten als studiosi in spe eine Rolle: möglichst in einer Stadt mit allen Ausbildungschancen! Tatsächlich fing Emanuel in Leipzig mit einem Jurastudium an, um sich schließlich doch die Musik zu erkiesen – dies dann allerdings, wohlgemerkt, abgenabelt im weit genug entfernten Frankfurt/Oder, also: freiwillig!

Für Carl Philipp Emanuel Bach dürfte demnach der Schluss nahegelegen haben, den eigenen Nachwuchs nicht zwingend auf die ars musica festzulegen – sondern ihn eher gemäß den jeweils eigenen Gaben und Fähigkeiten ideell und materiell zu unterstützen. Denn was soll man von einem Sohnemann erwarten, der sich die Last des „Sebastian“ abschüttelt und sich lieber nach einem Verwandten in Meiningen beziehungsweise einem knorrigen alttestamentlichen Propheten nennt? Das Potential zur offenen Rebellion wäre vorhanden gewesen, hätte der Vater nicht klug eingelenkt – Familientradition hin oder her.

Noch etwas: Zu Zeiten, da man sich in der besten aller Welten wähnte, da die Universalität eines Leibniz noch nachwirkte und man den scharfsinnigen Voltaire als Aushängeschild in Potsdam bei Hofe herumreichte, – da wurden viele Lehrbücher verfasst, die im Sinne der Aufklärung die natürlichen Anlagen eines Individuums fördern wollten, sofern dieses sich für ein Handwerk oder eine Kunst entschieden und festgelegt hatte. C.Ph.E. Bach hat für sein Fach die Anleitung geschrieben: „Versuch über die wahre Art, Clavier zu spielen.“ Das war das Gegenstück zur Flötenschule von J.J. Quantz, und weil der König ja die Querflöte so sehr liebte und eifrig blies – sich auf deren Grundlage auch komponierend ins Zeug legte – , gab es des öfteren interne Rangeleien um die höfische Gunst zwischen dem Chef der Bläser und dem der Tasten.

Dieser Konflikt zwischen Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Joachim Quantz war dem heranwachsenden Samuel sicherlich genausowenig verborgen geblieben wie die fama von der Unverschämtheit des Alten Fritz, dem Großvater 1747 bei dessen Besuch in Sanssouci auf der Flöte ein extra schweres Thema vorzugeben, aus dem der berühmte Gast dann allerdings das ebenso atemberaubende wie anstrengende „Musikalische Opfer“ schuf. Dass professionell betriebene Tonkunst keineswegs nur Zuckerschlecken sei, hat JSB II von Kindesbeinen an also durchaus mitbekommen und auf seine Weise verinnerlicht.

Entfaltung eigener Kunst

In Berlin und Potsdam erhielt Johann Samuel Bach Unterricht beim Radierer (und späteren Baurat sowie Zeichenlehrer preußischer Prinzen) Andreas Ludwig Krüger (1743-ca. 1805). Die Fertigkeit, mit der Nadel Metall so zu traktieren, dass daraus ein ansprechender Tiefdruck resultierte, wurde im achtzehnten Jahrhundert immer mehr vervollkommnet. Eine Weihnachtskantate des Großvaters beginnt mit den Worten: „Christen, ätzet diesen Tag / In Metall und Marmorsteine!“ – und zu Hause erzählte dem Schüler der stolze Vater gewiss, wie er selber seinem alten Herrn einst beim Notenstich für die „Kunst der Fuge“ zur Hand gehen musste, der Gefahr, durch Verblitzung zu erblinden tapfer sich aussetzend, allein dem erregenden Werk dienstbar. Wie vormals JSB I, so stach vorübergehend auch JSB II zu höherem Ruhm.

In Leipzig setzte der Twen seine Ausbildung fort bei Professor Adam Friedrich Oeser (1717-1799), Sohn sächsischer Eltern, gebürtig aus Pressburg (wie weiland Veit Bach als Spross thüringischer Einwanderer aus Wechmar?), künstlerisch belehrt und geprägt in Wien. Als er Samuel bei sich aufnahm, hatte er schon Jünglingen wie Goethe und Winckelmann das Zeichnen beigebracht, unter dem Einfluss der Werke Salomon Gessners, des nachmaligen Gründers (1780) jenes Journals, das sich seit 1821 „Neue Zürcher Zeitung“ nennt und bis heute an genauer Analyse des Allfälligen fast sämtliche andere deutschsprachige Gazetten weit überflügelt.

Dieser Gessner wirkte als Buchhändler, Verleger, Politiker, Schriftsteller und Zeichner, er repräsentiert die deutschschweizerische Variante eines vielseitigen Künstlers in weltbürgerlicher Absicht. Immerhin hatten ihn seine Lehr- und Wanderjahre bis nach Berlin und Hamburg geführt, ehe er die Familientradition fortsetzte und die ererbte Buchhandlung in Zürich übernahm.

Gessner (1730-1788) war bekanntgeworden durch seine Verse und Idyllenmalereien, worin er Bukolisches oder Pastorales, also Szenen aus dem als unbeschwert gedachten Leben antiker Viehhirten ausführte im Sinne einer starken Aufmerksamkeit für die Landschaft. Quellgrund dieses sympathischen Genres waren die Dichtungen des alten Griechen Theokrit (um 300-260 v. Chr.), die schon den alten Römer Vergil (70-19 v. Chr.) und im italienischen Mittelalter den alten Dante (1265-1321) und den nicht ganz so alten Petrarca (1304-1374) inspiriert hatten. Heitere, bisweilen derb humorvolle bis offen erotische Darstellungen einfachen, unbekümmerten, ungebundenen Lebens auf dem Lande unter mediterraner Sonne oder während lauschiger Nächte in freier Natur zogen die verstädterten Gebildeten des siècle des Lumières nachgerade magisch an.

Ihrem sanften Bann entzog sich auch JSB II nicht; er zeichnete und malte Bilder, Vignetten, Entwürfe in diesem und somit in Oesers Sinn. Rasch wurde er mit seinen Werken Dauergast auf Kunstausstellungen in Dresden und verkaufte derart viele Zeichnungen, dass er von manchen seiner Exponate Repliken anfertigen musste. 1773 ließ er sich gänzlich in der sächsischen Residenzhauptstadt nieder. Er beteiligte sich von dort aus 1775 an einer Ausstellung in Weimar, wo er seinen Bekanntheitsgrad nochmals steigern und weitere Aufträge entgegennehmen konnte. Besonders die „Südländische Ideallandschaft“ erwies sich als Erfolg, und so entstand im Folgejahr, beim sechsmonatigen Aufenthalt im Elternhaus in Hamburg, das einzige erhaltene und ihm zweifelsfrei zuzuordnende Ölgemälde.

Südländische Ideallandschaft

Italien unbekannterweise mit Anleihen beim Elbsandsteingebirge – kein Motiv hat JSB II häufiger variiert als dieses Landschaftsbild. Dessen gezeichnete Fassung von 1776 aus dem Bestand des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle habe ich mit eigenen Augen im Original betrachtet und dabei das Passepartout gemäß den freundlichen Anweisungen des dortigen Fachpersonals einigermaßen fingerfertig umtastet und behutsam gehandhabt. Zu sehen ist folgendes:

ideallandschaft

Links vorn beginnt die Szenerie mit reichlichem Laub- und Rankenwerk eines in abgeschattetes Licht getauchten großen Baumes. Im Vordergrund, am unteren Bildrand, steht die Statue der Göttin Flora, einen Siegeskranz in Händen haltend, mitsamt Rauchgefäß – und daneben eine Blickpunktvase auf steinernem Postament. Davor tummeln sich Frauen und Kinder, teilweise auf breiten Treppenstufen, die, von einer Mauer eingefasst, nach rechts hin sanft ansteigen. Die Personen bringen der Göttin kleine Opfergaben dar. Zwei der Kinder reichen Kohlen an die Frau nächst dem Standbild, die sich so als eine Priesterin erweist. Dieser ganze „heilige Bezirk“ wird in weitem Rund von einer Blütenhecke eingehegt.

Im sich in die Tiefe öffnenden Hintergrund sieht man ein breites Gewässer, gesäumt von Büschen und Bäumen, alles von der Sonne beschienen. Zwei Männer sind am rechten Ufer erkennbar auf einer flachen Wiese. Weiter hinten verläuft ein von vier sichtbaren Doppelöffnungen durchbrochener, römisch gemauerter Aquädukt. Rechts begrenzt, ab der Mitte des Bildes, eine bewaldete Anhöhe den Ausblick in die Landschaft; diese verliert sich im sonnigen Dunst bewaldeter Hügel. Oben rechts befindet sich ein schräg nach vorn zum Betrachter ausgerichteter griechischer Tempel, dessen Portikus von vier Säulen bestimmt wird. Davor liegen umgestürzte Grabsteine und Säulenreste, dahinter türmen sich Ruinen in einem beginnenden Nadelwald.

Es ist eine arkadische Komposition, die angeregt sein könnte von einer Szenerie „nach der Natur“ in der Sächsischen Schweiz. Die antikisierende Phantasie des Künstlers, nach dem Vorbild von Lehrern und Kollegen, geht über die konkreten lokalen Gegebenheiten dann aber so weit hinaus, dass im Ergebnis ein schöner Ort erschaffen ist, der ohne Beispiel bleibt und an dem sich alles harmonisch zusammenfügt. Sogar das durch die friedhöflichen Überbleibsel oben am Tempelberg in Erinnerung gerufene memento mori verursacht nicht die geringste mentale Störung beim Betrachter. Trotzdem ist es da: Der Tod lebt immer mit, wenn auch trümmerhaft und ziemlich weit weg von Frauen und Kindern und Männern.

In manchem Gegenstück hat JSB II anstatt des rechteckigen heidnisch-sakralen Bauwerks einen Rundtempel gezeichnet, an etlichen Stellen demoliert und eher eine romantisierende Ruinenstimmung vorwegnehmend denn eine heitere Landschaft darstellend. Ein anderes, ein nächtliches sujet stellt auf die Anhöhe eine veritable mittelalterliche Burg, und wiederum in anderen Arbeiten kommt die Szenerie ganz ohne Bauten aus, dafür bevölkern nackte Hirtenjünglinge die buschige Situation, aus dem Unterholz emporwachsende Baumriesen inbegriffen. Blatt für Blatt scheint da extra gezeichnet zu sein, nebst individuell geäderter Struktur. Wo, wenn nicht hier, wird die Redensart von „jedem Grashalm“ schwerelos überboten und damit hinfällig?

Helle mediterrane Idyllen mit ernsthafteren arkadischen Beimischungen, zwischen bukolischem Humor und endzeitlicher Tragik hinundherflirrend gleich dem Lichtschattenwechsel der in friedlicher Sehnsucht immer und immer wieder auftauchenden Büsche und Bäume – darin eingestreut allerdings so manches Mal ein Sarg, ein Denkmal, ein Gedenkbrunnen, eine Pyramidenspitze, sogar bisweilen etwas angedeutet Kirchliches … Johann Sebastian Bach der Jüngere hat sich vor und nach seiner „Südländischen Ideallandschaft“ in seinem Fach gründlich umgesehen, und man vergisst beim Erleben seiner besten Werke, aus welchem Land er eigentlich stammt. Europäischer Geist, aufgeklärtes Denken, beginnende romantische Überhöhung aus antik-klassischem Sinn: Mit diesem intellektuellen Gepäck strebte der junge Mann gen Italien.

Venedig sehen – in Rom sterben

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) befürwortete und unterstützte die Absicht, dass der begabte Sohn seines Hamburger Freundes im Gelobten Land der Künste studieren könne, ja müsse. Nach Dresden schrieb er einem befreundeten Bibliothekar über den soeben im September 1776 abgereisten JSB II, man solle ihm am besten jetzt schon Aussichten eröffnen auf eine künftige Anstellung in der Akademie, denn es sei sicher, dass er „gewiß einen eben so großen u. originellen Mahler verspricht, als seine Vorfahren Tonkünstler gewesen sind“. Von Hamburg startend steuerte der mit solchen Vorschusslorbeeren Bedachte zunächst die Metropolen Wien, Triest und Venedig an.

Mitten im Karneval traf der Kunststudent in der Lagunenstadt ein. Dort erlebte er Dresdner Liederchen venezianisch liederlich – immerhin Anlass für die einzige überlieferte Äußerung Johann Sebastian Bachs des Jüngeren zum beruflichen Hauptbetätigungsfeld seiner Familie. In einem Brief an Professor Oeser berlinert er: „Von dem Zustande der Musick und Opern hatte ich mich auch größere Begriffe gemacht“ … Über gesehene Werke der bildenden Kunst heißt es einige Sätze weiter: „Viele Gemählde die noch vor gut ausgegeben werden sind auch ihrem Untergange nahe, indeßen ist noch immer die Anzahl der wohl erhaltenen Gemählde so groß, daß man in Versuchung fallen kann Courier vorbeyzureiten; dieses wäre beym Tintorett am ersten zu entschuldigen, und ich muß gestehn daß mich dieser Meister mehr in Verwundrung gesezt als gefallen hat.“

Nach diesem musikkundigen und tintorettokritischen Aufenthalt in der Serenissima reiste JSB II weiter über Bologna (dort, wo Onkel Christian und Wolferl Gottlieb Motzhard sich speziellen sakralmusikalischen Studien unterzogen hatten), Ancona, Loretto und Terni. Eigentlich war geplant, auch Florenz zu sehen. Doch witterungsbedingt fuhr ab der ältesten europäischen Universitätsstadt keine Kutsche in Richtung Uffizien, so dass ein anderes Modul gewählt werden musste, ein Bologna-Prozess sui generis, und unser Held dann eben flexibel umdisponierend sowie frisch modulierend erst für die Rückreise eine Rast am Arno projektierte.

Im Februar 1777, senza Firenze, doch guter Dinge und nicht auf ewig hintendran sich wähnend, weil ein Vorhaben mal nicht geklappt hätte und nun ein Rückstand in Form von unerlaubt steigender Semesteranzahl im Modus eines Tadels zu gewärtigen und jetzt schon wortreich zu beklagen wäre –, erreichte er Rom.

Von den deutschen Künstlern, die dort ihr Zelt aufgeschlagen hatten, wurde der Achtundzwanzigjährige herzlich in Empfang genommen. Als väterlicher Freund erwies sich vor allem der Maler Reiffenstein, der den bald Erkrankten durch drei quälende, medizinisch für notwendig erachtete und finanziell vom Vater ermöglichte Operationen begleitete und betreute. Ende 1777 galt der junge Mann als geheilt, und eine letzte Schaffensperiode brach an. Mythologische Motive, römische Ruinen und sogar seine eigene Ruhestätte, der cimitero accattolico, wurden 1778 durch ihn ins Bild gesetzt. Gezeichnet vom wiederaufflackernden Krankheitsbild starb der Zeichner so hell-lebendig-gesund-sehnsüchtiger Bilder plötzlich und unerwartet am bezeichnet-bezeichnenden elften September.

Lebendige Erinnerungen in Moll

Dem trauernden Vater in Hamburg blieb nur der Nachlass, den man von Rom nach Norddeutschland schickte – und der eigene musikalische Ausdruck. Ein Rondo in a-moll für Klavier – mit schmerzlich verminderten Akkorden, chromatischen Bass-Abstiegen, wilden Arpeggien und harmonisch kühnen Rückungen – widmete er dem vor der Zeit weit weg von zu Hause Verstorbenen. Das Stück ist so etwas wie ein musikalisches Portrait. Was sonst ein Ratevergnügen im illustren Kreise abendlicher Salongespräche war – „Madame S. hört man sofort in den punktierten Achteln heraus“ – wird hier zu einem tombeau, einer Grab- und Gedenkmusik auf den Charakter des so Verewigten. Die frischen Wesenszüge stehen auf Bruchkante mit den untröstlichen Empfindungen des Hinterbliebenen, so dass ein zerrissener Eindruck hervorgerufen wird. https://www.youtube.com/watch?v=8OWLud86UM8

Seltsam mutet an, dass nur wenige Wochen vor dieser Klage auf Tasten ein ungleich wütenderes a-moll-Stück entstand, im fernen Paris, wo sich Mozart mit seiner Mutter aufhielt: als diese plötzlich verstarb. Der Kopfsatz seiner ersten von insgesamt nur zwei Moll-Klaviersonaten beginnt mit einem marschmäßigen Thema, das in gezackter Rhythmik und schmerzlicher Dissonanz einem musikalischen Aufschrei gleichkommt. – Ebenfalls in dieser Tonart steht das eigenartige Klavierstück „Abschied von Rom“, komponiert von Fanny Hensel als Nachklang eines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt im Jahre 1840. Und: Schließt nicht die „Italienische“ Symphonie ihres Bruders Felix Mendelssohn gleichfalls in traurig-tänzerisch-grimmigem a-moll? Tod und Trauer, Abschied und Erinnerung: Abendländische kunstfertige Klänge wachsen hinüber zu denen, die weiterleben müssen …

Wir, hier und heute, haben den aufstrebenden Johann Sebastian Bach, frühverstorbenen hoffnungsvollen Enkel des gleichnamigen Klangtitanen, so gut wie vergessen. Dank seiner familiären Herkunft haben manche Bachforscher versucht, neben der Musikwissenschaft sich auch Grundkenntnisse in der bildenden Kunst anzueignen. Das ist nur zu begrüßen. Und es ist förderungswürdig in einer Zeit wie der unsrigen, die nicht mehr bloß fachidiotisch agiert, sondern langsam auch, in einer fatalen Drehung weiter, den Überblick darüber verliert, weswegen sie sich überhaupt mit Einzelerscheinungen aus Geschichte, Religion und sonstiger Kultur beschäftigen sollte. Vielleicht ist Fachsimpelei am Ende doch lebenszugewandter als jene alles egalisierende Bequemlichkeit, die nicht mehr sieht, wie auch das lichteste und leichteste Kunstwerk ein Ergebnis harter Arbeit und abgerungener Zeit ist.

Benutzte Literatur. Anke Fröhlich: Zwischen Empfindsamkeit und Klassizismus. Der Zeichner und Landschaftsmaler Johann Sebastian Bach d.J. (1748-1778), Oeuvre-Katalog. Mit einem biographischen Essay von Maria Hübner [Seiten 13-32]. Leipzig 2007 [Umschlagbild: Südländische Ideallandschaft 1776, davon die Abbildung in diesem Text]. — Martin Geck: Die Bach-Söhne. Hamburg 2003 (rowohlts monographien). — Peter Prange: Deutsche Zeichnungen 1450-1800. Katalog. Köln / Weimar / Wien 2007 (Die Sammlung der Hamburger Kunsthalle. Kupferstichkabinett. Band 1. Herausgegeben von Hubertus Gaßner und Andreas Stolzenburg). — Dorothea Schröder: Carl Philipp Emanuel Bach. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Hamburg 2003 (Hamburger Köpfe).
Zitatnachweise. „Dächten wir nicht als Christen …“: Carl Philipp Emanuel Bach in einem Brief an die Leipziger Schriftstellerin Julie Friederike Clodius, zitiert nach Schröder, Seite 86. — „Inwieweit der junge Student …“: Hübner in: Fröhlich, Seite 17. — „gewiß einen eben so großen …“: Gotthold Ephraim Lessing in einem Brief an den Bibliothekar Karl Wilhelm Daßdorf am 26. September 1776, zitiert nach Hübner in: Fröhlich, Seite 25. — „Von dem Zustande der Musick …“ und „Viele Gemählde …“: Johann Sebastian Bach d.J. in einem Brief an Adam Friedrich Oeser am 2. März 1777 aus Rom, zitiert nach Hübner, in: Fröhlich, Seite 26.