Joseph Haydn unvergessen

Einer genuin christlichen Geisteseshaltung haben die ganz großen Gelehrten und Künstler der europäischen Kultur Ausdruck verliehen. Einer von ihnen starb hochgeehrt und geachtet heute genau vor zweihundertzehn Jahren in Wien, am 31. Mai 1809: Joseph Haydn. Er gilt als Begründer jener Musiktradition, die wir die „Wiener Klassik“ nennen. In Sonaten, Streichquartetten und Symphonien, in Opern, Oratorien und Messen hat er, 1732 im niederösterreichischen Rohrau geboren, wahrhaft geistreiche Musik geschaffen.

Zu seinen persönlichen Freunden zählten Mozart und Beethoven. Seinen Stil fand er unter anderem im Studium der Werke Georg Friedrich Händels und der Söhne Johann Sebastian Bachs. In seinen über tausend Werken vereinigt er einfache Liedformen mit hochkomplizierten Stimmgeflechten: darin fängt er alle Befindlichkeiten des menschlichen Gemüts ein, von tiefer Trauer bis zu heiterer lichter Gelassenheit, von klagendem Schmerz bis zum überschwenglichen Jubel. Zumindest eine Melodie ist uns allen vertraut: Aus einem seiner Streichquartette stammt die Weise zu unserer Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

chor

Man wird nicht sagen können, dass sich in Haydns Schaffen der Heilige Geist direkt äußert – dazu ist selbst Musik doch letztlich zu sehr irdenes Stückwerk, auch in einem so großartigen Oratorium wie der „Schöpfung“, das die biblische Schöpfungsgeschichte vertont. Aber diese Musik enthält Momente, die vom Zeitgeist heilsam wegführen und dem bösen Ungeist ganz klar wehren, weil Trost darin ist, Kraft, Mut, Ausdauer, Zuversicht und grenzenlose Hoffnung.

Rechte Lehre und befreiende Erinnerung – daraus entsteht ein neuer gewisser Geist, eine gute Ordnung, die nach vorn hin offen ist. Ganz optimistisch setzt Haydn am Anfang seiner „Schöpfung“ folgende Worte in erst dunkle, dann helle leichte Musik: „Nun schwanden vor dem heiligen Strahle / des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten; / der erste Tag entstand. / Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor. / Erstarrt entflieht der Höllengeister Schaar, / in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht. / Verzweiflung, Wuth und Schrecken / begleiten ihren Sturz. / Und eine neue Welt entspringt auf Gottes Wort.“

Fingerübung zu Beethoven

Bald, in zwei Jahren, wird die Feier seines 250. Geburtstages begangen werden – sofern dann noch ein kulturelles Umfeld vorhanden sein sollte, das sich der überragenden Bedeutung des 16. Dezember 1770 bewusst ist. Um schon jetzt langsam darauf vorzubereiten, wage ich die Veröffentlichung eines eigenen Textfragments, das sonst in der Schublade vergessen würde. Ein erstes Aufleuchten am Titanenhimmel sozusagen. Ohne die vielen fachlichen Hinweise kundiger Freunde wäre das übrigens nicht möglich. Daher vorab herzlichen Dank an alle, mit denen ich beethovengesprächsweise unterwegs bin! Folgender Entwurf gibt zugleich Einblick in mein Skizzenbuch – in ihm wimmelt es von Einleitungen, und die Hauptsache steht meistens aus. Das unterscheidet mich, wie so viele andere Dilettanten auch, vom unerreichten Meister. Dennoch. Den Anlauf einer präludierenden Etüde, einer Exposition, eines Bruchstücks für ein „Tema con variazioni“ will ich nicht unversucht lassen. Zumal in bezug auf den Künder und Künstler unerschütterlichen energischen Bewusstseins von urwüchsiger Freiheit. Bittesehr:

Kein anderer Tonsetzer steht meiner Meinung nach so sehr für die Freiheit wie Beethoven. Der Kerl hat einfach so komponiert, wie ihm die Intuition es eingab – jedoch nicht willkürlich, sondern auf dem Fundament gediegenen handwerklichen Könnens. Selbst das, was andere beurteilten als „auch in der Verirrung – groß“, ist eben bewusst so und nicht anders gestaltet.

Wobei „Freiheit“ nicht allein individuell, sondern objektiv zu verstehen wäre. Gewiss, da ist der ungebundene Künstler, der keine Ruhezeiten einhält und wegen nächtlichen Klavierspiels die Mietwohnung verliert. Da ist der durchstapfende Zeitgenosse, der die Welt „detestabel“ findet und das die kaiserliche Familie sowie Goethe in Teplitz auch spüren lässt. Da ist der unerschrocken für sein „van“ und für seinen Neffen vor Gericht streitende stolze Mann. Aber solche biographischen Einzelheiten sagen noch kaum etwas über das unvergleichliche Werk aus, das wir Nachgeborenen ja in erster Linie im Blick bzw. im Ohr haben, wenn sein Name fällt.

Seine Leidenschaftlichkeit in Werken wie z.B. der ersten gezählten Klaviersonate f-Moll, der Coriolan-Ouvertüre oder der Fünften Symphonie sollen nicht über die Verwegenheiten anderswo hinwegtäuschen. Da gibt es die nonchalanten G-Dur-Werke: Klaviersonaten, das Vierte Klavierkonzert oder das frühe Rondo von der Wut über den verlornen Groschen; da fällt einem der eigenartige Akkord der Es-Dur-Sonate aus op. 31 ein; überall finden sich harmonische Wendungen auf Grundlage der sixte ajoutée, und manchmal geht es nachgerade frivol zu, siehe nur die Fugenveralberung im letzten Satz der frühen F-Dur-Klaviersonate oder den „dionysischen“ letzten Satz der gewichtigen Siebten Symphonie.

Beethoven wuchs in Bonn am Rhein auf, der Residenz der Fürstbischöfe von Köln. Der Landesherr war nicht nur kunstsinnig, sondern er förderte nach Kräften ein freies aufklärerisches Kulturleben. So versuchte er auch, seine Herrschaft zu behaupten, was ihm im Endeffekt aber nicht gelang: 1794 besetzten die französischen Revolutionstruppen auch dieses Gebiet und lösten seine Institutionen auf. Beethoven, der zu dem Zeitpunkt als kurkölnischer Stipendiat bei Joseph Haydn in Wien studierte, büßte somit seinen finanziellen Unterhalt ein und war fortan auf sich selbst gestellt. Ein freier Künstler aus der Not heraus. Zeit seines Lebens blieb er materiell abhängig von adligen Gönnern: Diese jedoch, angefangen mit dem Fürsten Lichnowsky und dem Grafen Waldstein, schätzten gerade das Originelle an diesem Typen und ließen ihn in seiner Musik frei gewähren.

„Mozarts Geist aus Haydns Händen“ hatte ihm Waldstein schon als österreichischer Gesandter in Bonn ins Stammbuch geschrieben. Mozarts Melodik und Haydns Konstruktivität sind aber nur die direktesten Einflüsse für Beethovens erstaunliches Werk. Bereits der Bonner Organist, Cembalist und Bratschist in der Hofkapelle hatte gute Lehrer und verständige Freunde, allen voran den Klavierlehrer Neefe, der gebürtig aus Chemnitz kam. Unter seiner Anleitung lernte Beethoven Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ kennen, jenes „Alte Testament“ der Klavierliteratur, welchem der kommende Pianistenstar ein „Neues Testament“ in Form seiner 32 Klaviersonaten hinzufügen sollte.

Von besonderer Bedeutung sind für das tiefere historische Verständnis Beethovens die damals zeitgemäßesten Musikstile, nämlich das immer noch anwachsende Werk von Carl Philipp Emanuel Bach (zweitältester Bachsohn, 1714-1788) und die „Mannheimer Schule“ in einem der modernsten Staaten des Ancien Régime. Norddeutsch-protestantische „Empfindsamkeit“ und südwestdeutsch-gesamteuropäisch dominierte Neuigkeiten in Fragen von Schwung und Dynamik, gekoppelt mit Fortschritten im Instrumentenbau, wurden von dem jungen Mann aus Bonn geisteswach und eigenschöpferisch antizipiert und amalgamiert.

Der von sämtlichen Zeitgenossen verehrte „große Bach“, also Carl Philipp Emanuel, der erst fast dreißig Jahre als Cembalist am Hof Friedrichs des Großen in Berlin und Potsdam tätig war und seit 1767/68 als Nachfolger seines Patenonkels Telemann in Hamburg als Kirchenmusikdirektor wirkte, kann, noch vor Haydn, als Begründer der klassischen Klaviermusik gelten. Sowohl die Sonaten als auch die Charakterstücke zeichnen sich durch Melodik, Motivik, Harmonik und Dynamik als das Modernste aus, was damals möglich war. Bach spielt dabei gern mit Überraschungseffekten, z.B. Pausen an unvermuteten Stellen, Synkopen, „falschen“ Reprisen, lauten Einsätzen auf unbetonten Taktteilen, Sforzati versus Diminuendi und so weiter: Empfindsam gegen den Strich! Seine klavieristischen Charakterisierungen von hochgestellten hanseatisch-hamburgischen Damen und Herren entbehren nicht eines feinen bis dröhnenden Humors, sie sind Musik für Insider und bedienen so das gesellschaftliche Bedürfnis nach „persönlichen“ Bezügen.

Ins beschauliche Bonn klangen auch Neutöner aus Mannheim herüber: Johann Stamitz, Begründer des dortigen Hoforchesters, beeinflusste mit seinen sinfonischen Neuerungen das gesamte musikalisch wache Europa, unter anderem auch einen weiteren Bachsohn, den jüngsten: Johann Christian (1735-1782), den weltläufigsten aus der Familie: Man nennt ihn den „Mailänder“ und später den „Londoner“ Bach. Aus Italien hatte er das „singende Allegro“ mitgebracht, in England war er dann Konzertunternehmer mit zuerst sehr gutem und zuletzt gänzlich schwindendem Erfolg. Der junge Mozart hat in Mannheim prägende Eindrücke empfangen für sein sinfonisches und pianistisches Schaffen, und Beethoven zeigt gleich in der ersten Figur seiner ersten gezählten Klaviersonate, Opus 2 Nummer 1, wie energisch er denkt: Das Werk beginnt mit einer aufsteigenden, mit jedem der sechs Töne stärker gedachten Linie durch f-moll hindurch, vom eingestrichenen c bis zum zweigestrichenen as, in treppenartiger „Terrassendynamik“, einem ununterbrochenen Crescendo im Sinne der sogenannten „Mannheimer Rakete“. Darin liegt Sprengkraft für alle folgende Musik.

mannheimer rakete

Carl Philipp Emanuel Bach und Mannheim mussten dem jungen Mann aus Bonn als anregende Gegenwelt zur musikalischen Pedanterie erscheinen, wie er sie in Wien beim Kontrapunktlehrer Albrechtsberger, aber eben auch bei Haydn empfand. Beethoven brauchte jedoch ein Reich der Phantasie, das ihm Zuflucht bot vor allem, was er selber als „häusliche Misere“ bezeichnet hat. Als Kind vom gleichfalls in der fürstlichen Kapelle spielenden, aber hoffnungslos trunksüchtigen Vater oft geschlagen, als Jugendlicher daher schon mit Versorgungsaufgaben belegt für Mutter und Geschwister, wollte er immer ausbrechen. Die freiheitsliebenden Freunde wurden zu seiner eigentlichen Familie, die geistigen Aufbrüche unter Absehung aller irdischen Hindernisse zum Lebenselixier. Die erschütternden Worte aus seinem „Heiligenstädter Testament“ von 1801 mit dem Eingeständnis, dass vor dem Selbstmord ihn nur die Kunst zurückgehalten habe, sind Zeugnis der rettenden Kraft unabhängigen Denkens, Fühlens und somit: Seins. Im eigenen Bewusstsein, unverwechselbar und anderen haushoch überlegen zu sein, hat er sein Ohrenleiden, das 1819 zu völliger Taubheit führte, und andere Widrigkeiten durchgestanden. Es passt ins Bild, dass er sich am liebsten in freier Natur aufhielt und lange Waldspaziergänge unternahm: Unabhängig, die Gedanken reifen lassend, frei.

Beethoven, Jahrgang 1770, ist ein Generationsgenosse von Hölderlin, Hegel, Schleiermacher, Novalis und Napoleon. Allen diesen Persönlichkeiten ist gemeinsam, dass sie in je ihrem Gebiet nicht nur eine bestimmte Anschauung der Welt entwickelten, sondern nichts geringeres vermochten als einen ganzen Kosmos von Grund auf und vorbildlos einzig kraft eigener Vollmacht zu erschaffen! Dichtkunst, Geisteskraft, Gottesahnung, Sehnsuchtswirken und Ordnungsmacht – alles musste umfassend neu gewissermaßen unter Einsatz titanischer Anstrengungen aus dem aufgewühlten Boden gestampft werden. Die Größe dieser Leute war möglich unter dem Eindruck, dass das Ancien Régime hinweggefegt war in den Stürmen der Großen Französischen Revolution. 1789 waren sämtliche genannten Herrschaften um die zwanzig Jahre alt: richtig junge idealistische Männer in Saft und Kraft. Und Beethoven mittendrin! Was die anderen in Poesie, Philosophie, Pantheologie, Phantasie und Politik leisten wollten, das vollbrachte er musikalisch im Zusammentreffen von Pythagoras und Prometheus, im unerschöpflichen Reich der Töne und Klänge.

Hier, wo es nun interessant wird, bricht das Manuskript ab. Ich werde mich bemühen, es ex aermelo „quasi una fantasia“ weiterzuführen. Daher und/also dennoch: Fortsetzung folgt.

Abbildung: Mannheimer Rakete als Beginn, mithin erstes Thema der Klaviersonate f-Moll Opus 2 Nummer 1 aus dem Jahr 1795, Joseph Haydn gewidmet.