Guter Mond

Meine erste richtig große Liebe hieß Aynur und war eine Klassenkameradin im ersten Schuljahr. Ihr Vater arbeitete hart in einem Werk der Automobilbranche, ein sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei. Als die Familie wegzog in einen anderen Stadtteil und daher Aynur die Grundschulklasse und somit mein Gesichtsfeld verließ, flossen allseits Tränen über kindliche und erwachsene Wangen.

Einer meiner Urgroßväter wusste aus eigenem Erleben zu erzählen, dass bei der von internationaler Prominenz begleiteten Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der seitdem zwischen Brunsbüttelkoog und Holtenau Nord- und Ostsee miteinander verbindet, der Militärkapelle keine Nationalhymne für das Osmanische Reich  bekannt war, so dass sich die Musiker kurzentschlossen darauf einigten, das Lied „Guter Mond, du gehst so stille“ zu intonieren. Das war im Jahre 1895; mittlerweile, seit 1948, nennt sich die Wasserstraße, gemäß den allerersten Planungen im neunzehnten Jahrhundert, Nord-Ostsee-Kanal.

Mein Großvater mütterlicherseits wurde nach schrecklicher Verwundung vor Verdun – er verlor fast sein gesamtes Augenlicht – Paradeoffizier in Konstantinopel, stationiert an Bord eines der deutschen Kriegsschiffe unter Observanz der Hohen Pforte. Die Marine war des Deutschen Kaisers weithin geachtetes Glanzstück, im übrigen so gar nicht kriegsrelevant – weswegen die Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven im November 1918 die Revolution auslösten: als sie nämlich endlich auslaufen sollten, aber zu einem in den letzten Kriegstagen aussichtslosen und daher unsinnigen Einsatz.

Ay: Mond, nur: Schein; also „Mondschein“ war der Name meiner Freundin – wenn man ihn wortwörtlich aus dem Türkischen übersetzt. Und auch zwischen Brunsbüttel und Kiel scheint der Trabant gern. Mein Opa verabscheute seit dem Ende seiner Soldatenzeit so vehement den Krieg, dass er der Hitlerei von vornherein mit Verachtung begegnete – als mittlerweile Reichsbankbeamter späterhin ab 1933 keine leichte Option; er hat sie durchgezogen, allen Verlockungen des NS-Staates zum Trotz – großartig, dass er nie PG wurde.

Die Jungtürken waren die Hoffnung damaliger Zeiten. Aber sie überspannten den Bogen von Anfang an. Warum mussten die Schrift, der Kalender, die Kleidung so dermaßen verändert werden? War es klug, die Religion derart streng vom Staat zu trennen? Im Zuge der Begeisterung für den seit 1905 in Frankreich herrschenden Laizismus sind die Grundlagen der Türkischen Republik von 1923 gewiss verständlich – doch auf die Dauer haltbar? Wer jemals das Atatürk-Mausoleum besucht hat, weiß, wie befremdlich und brüchig solch ein weltlicher Totenkult ist, bei aller Anerkennung der Verdienste des Kemal Mustafa Pascha.

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Nun also haben wir die Kulmination von Oberhausen. Meine Freundin wäre entweder entsetzt – oder sie ist längst mit einem Mann verheiratet, hat Kinder, deren Meinung darin sich manifestiert, dass sie ein Parlament négligeable und die Todesstrafe super finden. Vernachlässigenswert wäre ja dann auch die korrekte Hymne, weil solche Lieder eher aus Europa kommen und man sich erdoganmäßig ja davon befreien will. Außerdem aber wird sich mein Großvater im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was an Ermächtigung sich gerade in Istanbul und umzu abspielt.

Wo bleibt eigentlich unser bundesdeutscher Verfassungsschutz? Wie kann es möglich sein, dass er einen türkischen Ministerpräsidenten in einem westdeutschen Fußballstadion massiven Änderungen bei sich daheim das Wort reden lässt, hinauslaufend auf eine Abschaffung der Gewaltenteilung? Und dabei noch billigend in Kauf nimmt, dass ein sportliches Spiel – an einem Sonnabendnachmittag! – ausfällt? Die Türkei ist ein schönes Land – aber Galatasaray dann doch schöner als jener Palast in Angora, dessen derzeitiger Hausherr mit seinem Bau einen Park verunstaltete, wo die Wurzeln hochgewachsener Bäume auf den Staatsgründer selbst zurückreichen.

„Guter Mond“, möchte man da einfach sagen. Ach, was muss die Sichel leiden unter den widerstreitenden Interpretationen der rabies theologorum, deretwegen ja bereits ein Philipp Melanchthon, seines Zeichens immerhin „Deutschlands Lehrer“, das Zeitliche durchaus gern segnete. Diese „Wut der Theologen“ hat der praeceptor Germaniae niemals goutiert; an ihr ist er dann nervenaufgerieben gestorben.  Hingegen wurde der zaghaft sich zeigende aufgehende Mond zum Sinnbild islamischer Potenz.

Der derzeitige türkische Staatspräsident hat eine theologische Ausbildung absolviert. Predigen kann er im Prinzip – doch ist das alles, was er sagt und tut, tatsächlich im Sinne des guten Mondes? Freut seine Rede meine Freundin Aynur denn wirklich? Würde mein Opa sagen, jetzt gehe es mit den Osmanen endlich wieder bergauf? Dreimal ist zu antworten: Mitnichten.

Es weinen derzeit viele Menschen wegen der Türkei. Sie sind mental gebunden an ein Land, wo Familie und Freunde wohnen. Möge das Zeichen des guten Mondes allen Rechtleitung geben.

Foto: Atatürk-Portrait in der türkischen Provinz