Rank und Schrank mit Schank

Um die knisternde Spannung zu halten, die mein Beitrag „Restposten“ ausgelöst hat, seien heute die eingetroffenen Rückmeldungen mitgeteilt. Sehr herzlich danke ich den unzähligen Freunden, die ihre Beobachtungen kundtaten: Es sind nicht umständlich zu zählende zwei. Die übrigen geneigten Leserinnen und Leser wissen ganz offensichtlich, was das Rätselbild darstellt; sie haben sich entsprechend meiner Bitte vorbildlich zurückgehalten. Ihnen allen meine hohe Anerkennung!

Wir gehen nun in die nächste Etappe. In der einen Antwort wird auf das sich räkelnd rankende taraxacum officinale hingewiesen, außerdem sei „viel Herbst“ auszumachen. Die zweite Zuschrift lautet: „Ich sehe welkenden Löwenzahn auf einem sehr trockenen, lehmigen, zerklüfteten Boden.“

Mauerblümchen im Untergrund. Neues Leben sprosst aus den Ruinen. Wer genau hinsieht, erkennt außerdem weißschimmernde Lichtreflexe. Da scheint die Sonne auf eine Glasschicht – und die bewirkt, dass es zweieinhalb Meter tiefer so gut wie nie regnet. Wir blicken in konserviertes, museal aufbereitetes Terrain, wobei sich der Betrachter selbst unter freiem Himmel befindet.

Über den Ziegelresten lässt sich rasten: So kann man „auf den Steinen sitzen“, zugegebenermaßen viel prosaischer, als das im dritten Teil von Thomas Manns erstem Roman in den Kapiteln sieben und acht beschrieben wird. Ich teile in diesem Zusammenhang jetzt mit, dass sich der Kurbetrieb von Travemünde in der erzählten Zeit – anno 1845 – fest in Hamburger Hand befand. Damit ist nun ein Hinweis auf die lokale Zuordnung des Fotos gegeben.

Ab dem Herbst des Mittelalters dienten Teile jenes Gebäudes, dessen letzter Rest-Pfosten hier aus der Versenkung hervorlugt, als Schranklager. Später, nach der vollständigen Niederlegung seiner Mauern, lebte der Verkauf von Waren aller Art anderswo in der Stadt weiter. Auch die Schankwirte machten auf diesen Märkten ihr einträgliches Geschäft. Bis heute ist das im Grundsatz so geblieben, wenn auch größer, lauter und zeitgeistiger.

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Ich freue mich auf Lösungsvorschläge und bin/bleibe gespannt. Im nächsten Beitrag kommt dann restlose Klarheit. Mir ist bewusst, dass die durch einen gebürtigen Lübecker sprichwörtlich gewordene Wendung „Mehr Demokratie wagen“ bereits von seinem Nachfolger im Amt, einem Hamburger, nach Möglichkeit so abgemildert wurde, dass sie das jeweils Machbare nicht aus dem Blick verlor.  Beteiligungskultur, die das „Sich-Einbringen“ fördert, ist gut und schön – auch wenn dadurch manchmal im Geiste des „Fortschritts“ dann Entscheidungen herbeigeführt werden, die man im nachhinein zutiefst bedauert.

Aber dies ist nun wirklich für heute der allerletzte Tipp zu meiner Fotografie,

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die eben Trümmerreste zeigt, ohne dass es kriegerische oder sonstwie gewaltsame Einwirkungen gab – sondern einzig und allein einen stadträtlichen Beschluss, den seinerzeit tatsächlich alle, die etwas auf sich hielten, erleichtert bejahten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Restposten

Hier ein kleiner Beitrag zum Mitmachen. Durch eure eigenen Kommentare könnt ihr euch an der Weiterführung dieses Textes beteiligen und so die Auflösung eines Rätsels befördern. Erster Schritt heute: Beschreibt einfach, was ihr auf dieser Fotografie zu erkennen meint. In nächsten Etappen sehen wir dann weiter. NB: Wer das Abgebildete schon kennt, sei fürs erste um äußerste Zurückhaltung gebeten, damit es für alle spannend bleibt. Danke!

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Als Tipp soviel: Ausgrabungen fördern hie und da so etwas wie einen heiligen Rest zutage. Nach der Konservierung, später, bei eiliger Rast von Touristen, wird seine ursprüngliche Bedeutung nur verstanden anhand einer erklärenden Hinweistafel. So auch in unserem Fall. Darüber hinaus lässt sich an eine Redensart aus den ersten Kapiteln der „Buddenbrooks“ denken, weil man selbiges hier – wenn auch beileibe nicht so still für sich wie in der Lübecker Bucht – durchaus tun kann. Das posting des Relikts stellt sich übrigens als ziemlich regenwasserabweisend dar und verschafft dem öffentlich-ökologisch-ökonomisch-ökumenisch zugänglichen Ort einen zusätzlichen Reiz.

Mit meinem dezenten Hinweis auf jenen Niederschlag, den man in Rinnen auffängt, verweise ich ganz am Rande auf meinen Rätsel-Beitrag „Heiteres Beruferaten“ vom 9. Juli 2016. Ihm folgten, trotz aufmunternden Zuspruchs, keinerlei Antworten. Die seinerzeit angebotenen Belohnungen konnte ich daher leider nicht verteilen. Aber das kann ja diesmal anders werden, setze ich doch nunmehr auf direkte Beteiligung in Form von Kommentaren, die man unten eingeben mag – damit es überhaupt weitergeht…

Ist das nicht basisdemokratisch, mitbestimmungsfördernd, teamorientiert, kreativ, kulturschaffend, sozialverträglich, verantwortungsbewusst, wertschätzend, transparent, bunt, vielfältig, internetaffin, kommunika-, autorenkollek- sowie interaktiv, geschlechtergerecht-durchgegendert und auch noch selbstbestimmt? Oder ist es einfach bloß – anstrengend?

Wie auch immer… Ich grüße in die Runde und bin freudig gespannt auf eure so oder anders ausfallenden Rückmeldungen.

 

 

 

 

 

Überblick

Plattes Land verschafft gründlich Überblick, norddeutsch … äh … tief eben, ne? Nah am Wasser gebaut, auf ganz eigene Weise emotional, in seinen freiheitlichsten Teilen seit tausend Jahren beleidigt, dass man mal christianisiert wurde. Das hat die selbstbewussten Marschenbauern allerdings nicht davon abgehalten, seit dem frühen Mittelalter mächtige Wurtkirchen zu errichten und sie später innen fein auszustatten. Arp Schnitgers Orgelbautradition sowie Ludwig Münstermanns Bildprogramm an Kanzeln, Taufsteinen und Altaraufsätzen prägen bis heute hin die im sechzehnten Jahrhundert lutherisch gewordenen Gotteshäuser der oldenburgischen Wesermarsch.

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Die Weite der Landschaft und der alles überwölbende Himmel mit seinen sich lautlos aber ständig verändernden Wolkenkonstellationen bringen seit jeher eine schwergängige Nachdenklichkeit hervor, die sich nicht in hektische Zeitläufte einpassen will. Das schließt keinesfalls aus, dass man nicht auf dem Quivif wäre: Saftiggrüne Milchweiden, florierende Hafenwirtschaft und bis vor kurzem sogar ein waschechtes Atomkraftwerk mit entsprechendem Zuliefererbetrieb prägten das den Sturmfluten abgetrotzte Land. „Gott schuf das Meer, der Friese die Küste“ – Schöpfung wurde hier immer wieder als rohes Chaos erfahren, bezwungen allein durch eigener menschlicher Hände Werk.

Während der Zweiten Marcellusflut anno 1362 bahnten sich die tödlichen Wassermassen Wege vom Jadebusen bis zur Weser und zurück, querfeldein. Es brauchte mehrere Jahrhunderte, um das sogenannte Lockfleth einzuhegen. Die schiefen Häuser zwischen Harrien und Boitwarden lassen bis heute erkennen, wo dieser Wasserlauf unterirdisch nach wie vor gurgelt und rumort. An der Oberfläche aber ist sonst alles schiedlich-friedlich. Ohne viel Worte hält man hier zusammen, lässt den anderen nach seiner Fasson leben und auch selig werden. Dogmatismus hat da nichts verloren, und Freiheit muss niemand erst mühsam erlernen – sie ist vielmehr dem einzelnen quasi angeboren.

Niemandem untertan zu sein bedeutet jedermann untertan zu sein. „Wer nich wullt dieken, mutt wieken“ – Wer sich nicht an Deichbauten beteiligt, hat keinen Platz. Gemeinschaftssinn hieß jahrhundertelang Anpacken im Deichband, um dem Blanken Hans keine Handbreit einmal gewonnener kultivierter Fläche zu überlassen. Die Gefahren lauern nach wie vor. Die Erlebnisse der Februarflut von 1962 sind in den Erinnerungen omnipräsent, und in diesem Herbst sind schon mehrfach die Deichtore geschlossen worden. Man lebt mit der Bedrohung und vertraut dem Schutz, den man selbst konstruiert und finanziert hat. Selbstbewusstsein hat durchaus positive Seiten. Nur wo äußere Abwehr funktioniert, ist innere Größe möglich.

Weitherzige Haltung stößt mit heftigrasantem Wandel zusammen: Höfesterben, Häfensorgen, Hastigkeiten beim Atomausstieg – können Windräder, Weserausbaggerung oder Weiterbau einer Küstenautobahn diesem Landstrich aufhelfen? Die hierher verteilten Migranten lernen Fahrradfahren, sofern sie nicht nach wenigen Wochen schon diese Gegend mit unbekanntem Ziel wieder verließen. Ein Überangebot an altgewordenen Mietwohnungen konnte rasch abgebaut werden, indem man diese mit Flüchtlingen belegte – und die fühlen sich, weil nicht ghettoisiert, ausgesprochen wohl hier. Alles ist im großen und ganzen überschaubar geblieben – auch dank einer unaufgeregten Bevölkerung, die ihre Begegnungen mit fremden Seefahrern und Marinern nie vergessen hat. Aus ursprünglichen Konkurrenten bei Brautschauen konnten nach und nach durchaus tolerierte Mitbürger werden … wenn die sich denn anpassten – und andererseits der hiesig eingewurzelte Hang, nachtragend zu sein, nur schlecht vergeben zu können, überwunden wurde.  Man wird sehen, wie sich das in Zukunft mit den heutigen sehr neuen Fremden entwickelt.

Das Verhältnis zum nahen Bremen ist durch die Jahrhunderte ambivalent: Die Wesermündung, ertragreiches Piratennest, war ab dem Mittelalter beidseitig in oldenburgischem Besitz; im Windschatten des Dreißigjährigen Krieges, aus dessen Zerstörungen der weise Graf Anton Günther sein Land heraushielt, erhob man zum Ärger der bremischen Kaufleute in Elsfleth den Weserzoll – erst Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lief er aus; und von 1849 bis 1852 wurde Brake – bis dahin vor allem Winterhafen für Bremer Schiffe – zum Standort der ersten gesamtdeutschen Kriegsflotte, befehligt vom legendären Admiral Brommy, der sich im griechischen Befreiungskrieg Meriten erworben hatte. Später, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, spiegelt sich die Rivalität zwischen Bremern und Oldenburgern noch einmal darin, dass der Großherzog die Stadt Nordenham gründete, genau gegenüber von Bremerhaven/Wesermünde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Amerikaner ihre Zwei-Städte-Zone gern mit der Wesermarsch und dem „überflüssigen“ östlichen Ufer zu einem durchgängigen Gebiet vereinigt. Diese Pläne fanden keinen Anklang, riefen vielmehr Proteste hervor. Und als man Anfang der siebziger Jahre in Niedersachsen die in vielerlei Hinsicht historisch unbedarfte Gebietsreform durchführte, mit der man Dedesdorf, das einzige rechtswesersche oldenburgische Kirchspiel, sowie die (seit den dreißiger Jahren) längste Flussinsel Europas, Harriersand, vom Landkreis Wesermarsch abtrennte, tat dies dem mentalen Zusammengehörigkeitsgefühl der Einwohner keinen Abbruch. Zwar wurde das Ergebnis einer Volksabstimmung von 1975 ignoriert, demzufolge der oldenburgische Staat als eigenes Bundesland hätte wiederentstehen müssen – doch auf andere Weise ist die Verbindung nach drüben sogar noch intensiviert worden: mit traditionellen Fährverbindungen sowie insbesondere durch den Bau des Wesertunnels.

Prosaisch genug sind diese Nachrichten, wären da nicht noch andere Stimmen. Wie geht es weiter mit der „Zeit, die mich betrog, / Die wolkengleich entflog“? Was wird aus der Gegend, von der es heißt: „Wo ich hergekommen bin, / Hat niemand Gedichte gemacht. / Sie haben abends bei Licht gelesen, / Und dann: Gute Nacht“? – Im kommenden Jahr denken die Einwohner der Kreisstadt Brake (Unterweser) an ihren einzigen Ehrenbürger, den Schriftsteller, Maler und Zeichner Georg von der Vring (*1889 in Brake / +1968 in München). Er ist der Autor des ersten deutschen Antikriegsromans („Soldat Suhren“); vor allem gilt er Kennern als bedeutender Lyriker – über die literarischen Umbrüche von „Gruppe 47“ und „1968“ hinaus. Da wird es einiges neu zu entdecken geben. Insofern schließe ich mit dem offenen Hinweis: Fortsetzung folgt – ganz detailliert vorgängig wesermarschmäßig im Überblick.

Foto: Nordpier in Brake (Unterweser), gesehen von der Schnellfähre Sandstedt-Golzwarden.
Verszitate: Georg von der Vring: Die Gedichte. München 1989, 2. Auflage 1996.